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Betty kann alles

Titel: Betty kann alles
Autoren: Betty McDonald
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mich vorwärtszubringen, aber ich erreichte nur, daß ich mir einen großen Splitter in die Wade zuzog. Ich probierte es mit Kriechen. Da meine einzige Aussicht war, das Ende meiner Tage in diesem dunklen Schacht abzuwarten, wenn es mir nicht gelang, irgendwo ans Tageslicht zurückzukommen, zwängte ich mich voller Verzweiflung weiter durch den schmalen Schlauch. Solange ich flach auf dem Bauch gelegen hatte, war es nicht so schlimm gewesen, aber zum Kriechen war der Durchmesser nicht groß genug. Immer wieder schlug ich mir den Kopf an, aber mit Todesverachtung kroch ich vorwärts. Plötzlich machte die Rutsche eine scharfe Biegung abwärts, und Hals über Kopf mit unerwarteter Geschwindigkeit flitzte ich abwärts und blieb schließlich an der Stelle stecken, wo die altersschwache Gleitbahn entzweigebrochen war. Mit zitternden Beinen richtete ich mich auf. Direkt unter mir war die gefährliche stillgelegte Mine. Von hoch oben konnte ich Mary rufen hören: «Betsy! Betsy! Hast du dir weh getan?» während sie den Berg heruntergerannt kam, wohlverstanden außerhalb «unserer Rutschbahn».
    Ich packte meinen Beereneimer und stolperte mit Beinen, die ihren Dienst noch nicht recht versehen wollten, bergaufwärts, fest entschlossen, Mary dazu zu zwingen, ebenfalls die Rutschpartie zu unternehmen. Doch da hörte ich meine Mutter nach uns rufen. «Ich komme!» schrie ich und machte kehrtum, und Mary echote von oben sehr zahm: «Ich komme.»
    Der Splitter in meiner Wade war dick wie eine Stopfnadel und mindestens acht Zentimeter lang. Nach einer Weile geschickten Ausfragens fand mein Vater heraus, was geschehen war, und verbot uns streng, der Rutschbahn jemals wieder in die Nähe zu kommen.
    Von diesem Zeitpunkt an war mein Leben mehr oder weniger sicher vor Marys gefährlichen Einfällen. Nur ein paar minder ernste Zwischenfälle gab es, so zum Beispiel, als sie meinem Bruder Cleve und mir einredete, Hexenkünste erlernt zu haben, uns Blut aus den Venen zapfte und kleingehackte Regenwürmer, gemischt mit Schnipseln von Fußnägeln, zu essen gab.
    Kurz nach unserer Übersiedlung nach Seattle – Mary war damals zwölf und ich zehn Jahre alt – waren wir eines Tages gerade dabei, uns nach dem Schwimmen anzuziehen, als meine Schwester den Vorschlag machte, ich solle mich nackt ins offene Fenster stellen und dem Präsidenten der Eisenbahngesellschaft von Milwaukee, der mit seiner Frau bei meinen Eltern zu Besuch war und dem gerade der Garten gezeigt wurde, zuwinken. Als ich mich von dieser Demonstration westlicher Gastfreundschaft nicht so begeistert zeigte, versuchte Mary wie üblich, mich mit vielen «Betsylein» zu beeinflussen, und irgendwie im Verlauf unserer Diskussion, an der auch die Hände beteiligt waren, fiel Mary gegen das Fenster, die Scheibe zerbrach, und wir rollten beide splitternackt hinaus auf das Flachdach, mitten in die Scherben hinein und jaulend wie verwundete Hunde.
    Der Präsident der Eisenbahngesellschaft von Milwaukee und seine Frau waren kinderlos und glaubten daher meine wilde Geschichte, daß ich mich beim Ausziehen in meinem Badeanzug verfangen hätte, gegen Mary gefallen sei und sie unglücklicherweise bei meinem Sturz durchs Fenster mitgerissen hätte. Sehr zahm und wohlerzogen gaben wir diese Geschichte zum besten, als wir geschmückt mit Mullbandagen über unseren verschiedenen Schnittwunden zum Tee erschienen. Mein Vater verhielt sich schweigsam und wartete, bis die viel Mitgefühl mit uns zeigenden Gäste sich verabschiedet hatten. Dann trug er uns auf, zur Strafe je fünftausend Steine aus dem Obstgarten aufzulesen und in den alten Brunnen hinter der Scheune zu werfen.
    Wir hatten den fünfhundertzweiundsiebzigsten Stein in den Schubkarren geworfen und versuchten bedrückt, 572 von 10000 abzuziehen, als Mary ihre Eingebung hatte.
    «Ich hole alle Kinder aus der Nachbarschaft zusammen», erklärte sie, «und dann erzählst du ihnen ‹Nancy und Plum›.» Das war eine Geschichte von zwei kleinen Waisen und ihren Erlebnissen, die ich Mary seit Jahren des Nachts im Bett erzählen mußte. «Und wenn du an die spannendste Stelle kommst, hörst du auf, und ich sage den Kindern, daß du erst weitererzählst, wenn jedes von ihnen hundert Steine aufgelesen und in den Brunnen geworfen hat.» Die Sache klappte großartig. Elfhundert Steine fanden an diesem Tag ihren Weg in den Brunnen. Die schlaueren Kinder blieben am nächsten Nachmittag wohlweislich fern, aber ich machte ihr Wegbleiben wett, indem
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