Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Betty kann alles

Titel: Betty kann alles
Autoren: Betty McDonald
Vom Netzwerk:
ihren kleinen, sommersprossigen Händen wie ein geölter Blitz über die Tasten fuhr. Wenn ich jetzt zurückdenke, muß ich gestehen, daß meine Schwester Mary auf dem Gebiet der Potpourris wahre Pionierarbeit geleistet hat.
    Wenn wir Gäste hatten, führten wir Kinder gewöhnlich unsere Künste vor. Als erste präsentierte sich Dede, die schon mit zwei Jahren sehr sicher «Land meiner Väter» singen konnte, als zweiter kam Cleve an die Reihe. Bis seine Klarinettenkenntnisse soweit gediehen waren, daß er ein Solo zum besten geben konnte, rezitierte er Gedichte. Den Abschluß der Vorführung bildeten Mary und ich am Klavier.
    Ich spielte mit schweißigen Fingern und ohne jede künstlerische Inspiration das letzte traurige, schwierige Stück, das Miss Welcome mir eingepaukt hatte, und ich gab es getreulich wieder, Note für Note, wie es geschrieben war und wie ich es zu spielen gelernt hatte. Sogar die Handgelenke hielt ich laut Miss Welcomes Ermahnung gesenkt, und ich drückte fest auf die Tasten, was dem Ton mehr Fülle geben sollte. Ich konnte meine Stücke stets auswendig und machte nie einen Fehler, aber das beeindruckte niemand, wie sich an dem nervösen Stuhlrücken, dem Zeitungsrascheln und Hüsteln merken ließ, das in den von Miss Welcome vorgeschriebenen langen dramatischen Pausen beängstigend hörbar wurde. «Sehr hübsch, Betsy», lobte Mutter, wenn ich endlich eines dieser langweiligen Dinger, bei denen sich stets dasselbe Thema mit wechselnder Auflösung wiederholt, hinter mich und die gequälten Zuhörer gebracht hatte.
    Dann kam Mary dran. Heiter und unbeschwert setzte sie sich ans Klavier und legte hemmungslos und mit Schwung Griegs «Carneval», «Danse nègre», «Anitras Tanz», «Le Papillon» oder «Frühlingsrauschen» hin. Jedermann rief lobend: «Nein, wie begabt!» und nur ich bemerkte, daß jedes Stück stark mit Eigenheiten des anderen durchsetzt war und alle gemeinsam starke Vergewaltigungen der Komponistin Mary Bard aufwiesen.
    Miss Welcome machte kein Hehl daraus, wie sehr sie Mary bewunderte, selbst wenn Mary mit Trompetenstimme sprach und steif und fest behauptete, Grieg habe diese Stelle in der Chopin Passage in Beethovens «Pathétique» komponiert, und zu guter Letzt behielt Mary immer die Oberhand.
    Als die Eltern uns zu einem Konzert mitnahmen und wir de Pachmann die dritte Ballade von Chopin spielen hörten, waren wir so begeistert, daß Mary beschloß, dieses Stück beim nächsten Frühlingsvorspielen zum besten zu geben. Da das Vorspielen in einem Monat stattfinden sollte, war Miss Welcome etwas skeptisch und meinte: «Du bist sehr, sehr begabt, Mary, aber die dritte Ballade von Chopin ist schrecklich schwer, und die Zeit ist kurz.» «Ich werde vier Stunden täglich üben», verhieß Mary. «Das ist nicht genug», wandte Miss Welcome ein. «Zehn Stunden, zwölf Stunden, sechzehn Stunden», erhöhte meine Schwester großzügig ihr Angebot, und dann bedurfte es keiner großen Überredungskünste unsererseits mehr, bis Miss Welcome sich vor dem Klavier niederließ und uns die dritte Ballade vorspielte. In technischer Hinsicht konnte sie de Pachmann nicht das Wasser reichen, aber was dramatischen Ausdruck betraf, war sie ihm haushoch überlegen. Bei den lyrischen Stellen streichelte sie die Tasten, als wären es junge Hunde, aber wenn sie dann zum ta-ta… ta-ta… ta-ta, ta, tata, ta kam, hob sie die Hände einen Meter hoch und traf dann beim schwungvollen Herunterkommen zwar nicht immer die richtigen Tasten, aber der Gesamteindruck war sehr wirkungsvoll und ohne Zweifel staccato. Ans Forte ging sie mit letzter Kraftreserve und viel Pedal und unterstrich die Wirkung noch mit gefühlvollem Stöhnen und stoßweisen Atemzügen. Um Miss Welcome nicht in ihrem Künstlerstolz zu verletzen, erstickten wir unser Lachen in den modrig riechenden, dicken Samtportieren.
    Während des folgenden Monats las ich die Noten, und Mary paukte sie sich ein, und als es zum Vorspielen kam, kannten wir beide die Dritte Ballade in- und auswendig. Mary gab eine glanzvolle Darbietung, abgesehen vom Auslassen einiger Läufe und der gesamten schwierigen Passage kurz vor dem Schluß, wo die linke Hand die Tasten auf- und niederrasen muß, während die rechte Hand die Melodie spielt. Miss Welcome, längst unempfindlich für das Auslassen wichtiger Stellen geworden, sprang begeistert auf, segelte auf Mary zu, küßte sie auf beide Wangen und rief entzückt: «Ich habe nicht geglaubt, daß du's schaffen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher