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Betty kann alles

Titel: Betty kann alles
Autoren: Betty McDonald
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ich zwei Spannungspausen in meine Erzählung einschaltete, so daß die sechs Dummen, die gekommen waren, je zweihundert Steine auflasen und wir im Endresultat sogar besser abschnitten als am Vortage.
    Am Wochenende hatten wir über sechstausend Steine aus dem Obstgarten in den Brunnen verfrachtet. Nancy und Plum, die mit knapper Müh und Not aus dem Waisenhaus entwischt waren, hatten die abenteuerlichsten Erlebnisse hinter sich; sie waren von Zigeunern gestohlen, von Bankräubern entführt und in einer stillgelegten Mine ausgesetzt worden; sie hatten eine grauenvolle Nacht in einem Spukhaus verbracht, dann einen kleinen Jungen adoptiert, der sich als verkleideter Prinz entpuppte; sie waren auf einem Dampfer als blinde Passagiere nach China gefahren und zuletzt irgendwo bei einem seelenguten Bauern und seiner Frau gelandet, die einen Estrich voll der herrlichsten Spielsachen besaßen, und ich kam mir vor wie unser Badeschwamm, wenn er ausgedrückt war.
    Meines Vaters Programm zu unserer kulturellen Erziehung schloß Unterricht in Gesang, Klavier, Französisch, Ballett und Volkstänzen ein und diente im übrigen dazu, Marys Behauptung zu bekräftigen, daß jeder alles könne, in ihrem persönlichen Falle sogar mit dem Zusatz: «ohne zu üben».
    In einer beachtlichen Reihe einander folgender Klavierlehrerinnen war Miss Welcome diejenige, bei der wir es am längsten aushielten. Sie war eine gefühlvolle Europäerin, die sich die Arme bis zwei Zentimeter unter ihre kurzen Ärmel kalkweiß puderte, mit Vorliebe hellrote Kleider trug und zum Unterricht in Turbans mit wehenden Schleiern erschien. Sie roch immer nach Fisch und pflegte den Rhythmus mit ihren harten Knochenfingem auf unsere Rücken zu klopfen. Wurde sie von ihrem Temperament übermannt, wanderte sie im Zimmer auf und ab, die Schleier malerisch um ihr Haupt wehen lassend, die weiß bepuderten Arme gleich Dreschflegeln schwingend, und rief mit Kommandostimme im Takt: «Eins, zwei, drei und vier! Fühlen mußt du's! Füh-len mußt du's!» Zu unserem besonderen Entzücken brach sie manchmal ob unserer Fehler in echte Tränen aus. «Nein! Nein! Doch nicht b, sondern h!» klagte sie mit gebrochener Stimme, und bitterlich weinend schlug sie sich die Hände vors Gesicht.
    Miss Welcome plagte uns nie mit Tonleitern oder Fingerübungen oder solch albernen Stücken wie «Für Kinderfinger». Wer bei ihr Unterricht nahm, begann vom ersten Tage an mit richtigen, handfesten, schwierigen Kompositionen richtiger, handfester, schwieriger Komponisten. Und wenn es den Schülern in der dritten Stunde noch nicht gelang, zum Beispiel die schnellen Läufe oder die vollen Akkorde Rachmaninoffs Prélude in cis-moll vom Blatt zu spielen, strich Miss Welcome ohne mit der Wimper zu zucken die betreffenden Stellen. Mit derselben Kaltblütigkeit strich sie die tiefen oder hohen Töne eines Akkords, den unsere Finger nicht zu spannen vermochten. «Versucht jetzt», befahl sie dann, und wenn es immer noch nicht klappen wollte, zückte sie den stets bereiten Bleistift und verurteilte den gesamten schwierigen Teil der Komposition zum Verschwinden. «Nun aber mit Gefüüüüüüüühl!» hieß es, und angespornt von unserer freudigen Erleichterung, hieben wir auf die Tasten und legten Gefühl in den kläglichen Rest der verbliebenen Noten.
    Da ich lange, dünne Finger hatte und mich schrecklich vor Miss Welcome fürchtete und es bei fast jeder Stunde zu Tränenausbrüchen bei mir kam, behauptete Miss Welcome, ich sei besonders empfindsam, und suchte lauter traurige Stücke mit riesigen Akkorden und weit gespannten Griffen aus. «Eins, zwei, drei und vier!» kommandierte sie. «Los Betty, was ist denn das? Spiel jetzt!» Und ich plärrte weinerlich: «Ich kann die Akkorde nicht greifen», und versuchte, mit meinen Spinnenfingern eine Oktave zu überspannen, wie Schumann dies so einsichtslos vorschrieb. «Du kannst und du mußt!» zischte Miss Welcome in mein tränenüberströmtes Gesicht, und ich versuchte es immer und immer von neuem. Ich übte täglich stundenlang meine traurigen, schwierigen Stücke mit steigender Verzweiflung und immer weniger Lust. Mir lag nichts an diesen gedehnten, langweiligen Kompositionen mit ihren nicht zu meisternden Akkorden. Ich wollte wie Mary sein, die Miss Welcome unverdrossen widersprach, zu Hause kaum jemals eine Taste anrührte, alles nach Gehör spielte (Noten zu lesen lernte sie erst nach ihrer Heirat), sich ihre Bravourstücke selbst aussuchte und mit
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