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Berlin - ein Heimatbuch

Berlin - ein Heimatbuch

Titel: Berlin - ein Heimatbuch
Autoren: Murat Topal
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beurlaubt, aber das alte Schmähwort »einmal Bulle, immer Bulle« hat durchaus seinen wahren Kern.
    Meine Schupo-Sozialisation, gepaart mit meiner angeborenen brennenden Neugier, trieb mich, in atemlosem Tempo hinter den immer zahlreicher werdenden Rettungsautos herzulaufen und die besorgten Warnrufe von Freundin und Kumpels nonchalant zu überhören. Je näher mich mein wilder Lauf dem Reichstagsufer brachte, desto mehr Menschen kamen mir mit Angst in den Augen entgegen, ohne dass ich dem allgemein stetig lauter werdenden Geschrei entnehmen konnte, was eigentlich die Ursache der rasant anschwellenden Panik war. Kurz vor dem ARD-Hauptstadtstudio wurde das Gewühl dann so dicht, dass ein Durchkommen praktisch unmöglich war. Hier nun konnte ich von Fliehenden atemlos herausgepresste Satzfetzen aufschnappen. Alle handelten sie von einem Verrückten, der wahllos Passanten niedersticht. In dem schwer zu schildernden hektischen Durcheinander fühlte ich mich von einem unkontrollierten Adrenalinschub berufen, den offenbar wahnsinnigen Amokläufer auf unkonventionelle Art und ohne offiziellen Auftrag zur Strecke zu bringen. Aber als ich wie einst Moses die Massen teilen wollte, um zum Ort des Geschehens durchzudringen, spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz und stürzte zu Boden. »Getroffen, ausgerechnet«, dachte ich im ersten Schockmoment nur. Schwer benommen nahm ich allenfalls schemenhaft war, dass sich ein mindestens zwei Zentner schwerer Koloss auf mich geworfen hatte und mich mit aller Macht zu Boden drückte. Im Gegensatz zu meinen bisherigen Vorstellungen von durchgeknallten Amokläufern, wirkte er sehr in sich – oder besser gesagt: auf mir – ruhend. Und dies trotz seines heftigen, wahrscheinlich seinem Übergewicht geschuldeten Keuchens. Auch ein Messer konnte ich bei erster flüchtiger Betrachtung weder in seinen Händen noch sonst irgendwo an seinem Körper entdecken. Also begann ich mich mit dem Gedanken abzufinden, dass ich wohl – warum auch immer – von einem zivilen Polizeibeamten dingfest gemacht worden war.
    Ich mache es kurz: Der übereifrige Zivi hatte bereits eine Straßenkreuzung vor unserem unliebsam engen Körperkontakt meine Verfolgung aufgenommen, da ihm mein manischer Sprint in höchstem Maße verdächtig erschien. Überzeugt, den messerstechenden Amokläufer vor sich zu haben, sah er in seinem fiebrigen Jagdwahn plötzlich ein Messer in meiner Hand aufblitzen und machte mich nach good old Footballschool mit einem fetten Bodycheck dingfest. Sein fataler Irrtum klärte sich glücklicherweise recht schnell auf, da er bei mir trotz intensivster Suche keinen messerähnlichen Gegenstand finden konnte. Dennoch interessant, wie schnell aus einem harmlosen unbewaffneten Sprinter ein potenzieller Massenmörder wird.
    In der Zwischenzeit hatten kompetentere Fahnder als mein Bezwinger den wahren Täter in Gewahrsam genommen. Womit sich auch mein heldenhafter Einsatz als überflüssig erwies. Der Übelmann war ein ausgerechnet aus Neukölln stammender 16-Jähriger, der völlig betrunken wahllos auf vorbeikommende Frauen und Männer eingestochen und dabei mehr als 30, zum Teil schwer Verletzte hinterlassen hatte. Zehn Monate nach der Tat wurde der junge Stecher wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu sieben Jahren Haft verurteilt. Strafmildernd hielt ihm das Gericht zugute, dass er sich bei allen Opfern persönlich entschuldigt hatte.

    All dies geht mir seitdem, wie gesagt, bei fast jeder Fahrt zum Hauptbahnhof als Endlosschleife durch den Kopf. Mögen andere Bahnkunden sich eher über die Posse mit den zu kurz geratenen Bahnsteigüberdachungen amüsieren, die ausgerechnet Erste-Klasse-Reisende im Regen stehen lassen. Oder über die stummeligste U-Bahn-Strecke der Welt lachen, die sogenannte Kanzlerbahn. Oder sich an die erbitterten juristischen Auseinandersetzungen zwischen dem Chefarchitekten Meinhard von Gerkan und dem geradezu legendären ehemaligen Bahnchef Mehdorn erinnern, welcher dem Planer den ursprünglichen Bauentwurf aus finanziellen Opportunitätserwägungen eigenmächtig und ohne Rücksprache, Diskussion oder Sachverstand konsequent zusammenstrich. Ich jedenfalls sehe mich beim Stichwort Hauptbahnhof immer durch die Wilhelmstraße sprinten.
    All diese Erinnerungen führen regelmäßig dazu, dass ich ins Trödeln gerate und de facto bei jeder Fahrt zum Hauptbahnhof zu spät komme. So sehe ich beim atemlosen Hinaufhetzen der Rolltreppen Karl schon mit
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