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Berlin - ein Heimatbuch

Berlin - ein Heimatbuch

Titel: Berlin - ein Heimatbuch
Autoren: Murat Topal
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zusammengefaltet und zurück in die Hosentasche gestopft hat, schaut er mich fragend an: »Und jetzt?«
    Ich nestele meine unschlagbar coole Sonnenbrille heraus, Modell »City Cobra« aus den 80er-Jahren – den Stallone zu geben ist meine Art, Unsicherheit zu überspielen.
    »Jetzt, mein Lieber, gehen wir den Drachen testen! Damit ich weiß, ob es der Richtige für meinen Steppke ist.«
    Karl schaut den Hermannplatz hoch und runter. »Testen? Wo denn? Ein Drachen ist ein Fluggerät, das seine Auftriebsenergie aus dem Wind bekommt, der über seine Segelfläche gelenkt wird, und man braucht also Platz, um ...«
    Aaaarghhhh. Keine Ahnung, warum meine Frau mit solch einem Schwafelbaron Brockhausen aufwachsen musste.
    »Momentchen, Karl. Ich will nicht hier testen. Wir gehen aufs Tempelhofer Feld, Mann.«
    »Was?« Karl schaut mich irritiert an. »Bist du sicher? Ich dachte, du wolltest heute an deinem neuen Programm arbeiten? Ann-Marie hat gesagt ...«
    Ich werfe ihm einen genervten Blick zu – den er nicht zur Kenntnis nimmt. Das muss an meiner voll verspiegelten Fassade liegen. Karl lässt nicht locker.
    »Sie hat gesagt, dass du heute dringend an den Schreibtisch musst. Stattdessen willst du jetzt ’nen Drachen steigen lassen? Zwischen löchrigen Landebahnen, Flugzeuggerippen und Hundekot?«
    Was ist das hier? Ein abgekartetes Spiel? Wurde Karl von meiner Frau eingeladen, um mich im Geheimdienst Ihrer Majestät zu beschatten?
    »Reg dich ab, Mann. So ein Himmel und dieser Wind, das ist 1a-Flugwetter. Und das alte Rollfeld ist jetzt ein Park. Ein Riesenteil, mitten in meinem alten Kiez. Früher wollte da keiner wohnen, is ja Neukölln, aber jetzt tun alle so, als wäre das dort die neue Lower Eastside und machen auf Gentrifier statt auf Mieter.«
    Karl seufzt nur. »Wenn du schon mit Jugendslang brillieren willst, Murat: Das heißt jetzt auch nicht mehr Drachen steigen lassen. Das heißt Kiting.«
    Während Karl noch über den Unterschied von Drachen und »Kites« monologisiert, habe ich ihn schon unauffällig auf den Bahnsteig der U8 gelotst. Diese Art von nonverbaler Menschenführung habe ich bei der Polizei gelernt. Der ein oder andere Delinquent staunte früher auch nicht schlecht, wenn er sich unversehens in unserer grünen Minna wiederfand.
    Während der Fahrt fummelt Karl die Bedienungsanleitung des Fliegers aus der Packung und beginnt, sie von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen, oder, besser gesagt: Er scannt sie ein .
    Als wir am U-Bahnhof Boddinstraße wieder ins Helle treten, wirkt er schon völlig verpixelt. Gemeinsam trotten wir die Herrfurthstraße Richtung Tempelhofer Feld entlang. Dort angekommen, bleibt meinem Begleiter vor Staunen der Mund offen stehen. Unsere Blicke schweifen über die Riesengrünfläche, endlose Weite bis zum Horizont, überall buntes Treiben. Karl nutzt die andächtige Pause für seine notorische Nasenreinigung. »Das ist ja eine gigantische Grünfläche! Und so viele Leute hier!«
    Ich grinse und kann mir den Stolz des Lokalmatadoren nicht verkneifen. »Guck ma hier. Die haben sogar noch die alten Schilder stehen lassen, die mal für die Piloten waren, wie ›From here only go on with radio contact with the tower‹ und so.«
    Karl betritt ehrfürchtig den Rasen – und schweigt. Wie erholsam!
    »Und Kampfhunde«, nutze ich seine Sprachlosigkeit schamlos aus, »sind nur in den Hundeauslaufzonen erlaubt. Kannst also ganz entspannt sein.«
    Karl durchwühlt seine Taschen und bringt eine dunkel getönte Nickelbrille zum Vorschein.
    »Was machst du denn da?«
    »Na, meinen Sonnenschutz aufsetzen.«
    Jetzt will er aber endgültig zu TKKG-Karl mutieren, denke ich. Sagen tu ich aber: »Nee, Mann, nee! So kannste hier als Kiter nicht rumlaufen. Das sieht total gaga aus!«
    »Du glaubst also, deine Pseudo-Pilotenbrille wirkt cooler? Echte Piloten würden damit bestenfalls hochkant aus dem Cockpit fliegen«, pampt er zurück. Ich spare mir jede weitere Diskussion – aus dem Mann wird einfach kein Styler mehr – und rücke die eigene, in Wirklichkeit natürlich todschicke Actionbrille noch ein wenig lässiger auf meiner Charakternase zurecht. Immerhin steckt er das dämliche Nickelgestell wieder zurück in die Tasche. Nicht, dass sein übliches panzerglasdickes Nasenfahrrad besser aussehen würde, aber daran habe ich mich inzwischen wenigstens gewöhnt.
    Auf dem riesigen Gelände tummelt sich die Gemeinde der Drachenbändiger. Der Himmel ist voller Kites in allen Farben und
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