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Berlin - ein Heimatbuch

Berlin - ein Heimatbuch

Titel: Berlin - ein Heimatbuch
Autoren: Murat Topal
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einem riesigen Überseekoffer auf dem Bahnsteig stehen und mit saurer Spreewaldgurken-Miene nach mir Ausschau halten.
    Was unsere Begrüßung dementsprechend kühl ausfallen lässt.
    »Na endlich, Murat. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.«
    Das ist alles, was er sich bei unserem kurzen Händedruck abringen kann, was ich wiederum mit einem knappen »Was hast du denn in dem Riesenkoffer?« kontere.
    »Ich dachte, nur Frauen nehmen auf Reisen ihren gesamten Hausstand mit«, setze ich als kleines Sahnehäubchen obendrauf.
    »Sehr witzig. Erstens habe ich einiges an Lektüre über Berlin mit und zweitens weiß ich ja noch nicht, wie lange ich bleibe.« Ein kleiner Satz, gelassen ausgesprochen, aber mit einer Wirkung wie ein Keulenschlag. Benommen taumele ich mit meinem dreisten Gast zum Auto und bin die gesamte Fahrt nach Hause hilflos dem Trommelfeuer seiner Wortsalven ausgesetzt. Ein sehr unangenehmes Gefühl, von dem ich bereits ahne, dass es in den nächsten Wochen zum Dauerzustand werden wird.

    Der Hauptbahnhof Berlin
    Der Berliner Hauptbahnhof ist der größte Turmbahnhof Europas und mit circa 300.000 Fahrgästen täglich der viertgrößte Personenbahnhof Deutschlands. Von 1868 bis 2002 befand sich auf dem Gelände der Lehrter Bahnhof. Entworfen wurde das 2006 eröffnete spektakuläre Bauwerk von dem Architekten Meinhard von Gerkan. Tag für Tag halten hier 225 Züge des Fernverkehrs, 325 Züge des Nahverkehrs sowie 627 S-Bahnen.

    Kurz, kürzer, Kanzlerbahn
    Die »Kanzlerbahn«, im offiziellen Sprachgebrauch der BVG »U55« genannt, verkehrt unterirdisch zwischen Brandenburger Tor und Hauptbahnhof. Sie ist ein Teilstück der noch geplanten Verlängerung der U-Bahn-Linie U5 vom Alexanderplatz zum Hauptbahnhof. Der Spottname »Kanzlerbahn« bezieht sich auf den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, der dafür sorgte, dass der Bau der von den meisten Berliner Bürgern als unsinnig empfundenen Linie im Hauptstadtvertrag festgeschrieben wurde. Das Projekt an sich ist gleich mehrfach rekordverdächtig. Mit ihrer sagenhaften Länge von 1,74 Kilometern ist die U55 vermutlich die kürzeste U-Bahn-Strecke der ganzen Welt. Umgekehrt proportional zu ihrer verkehrstechnischen Bedeutung hat die Minibahn die astronomische Summe von 320 Millionen Euro verschlungen – umgerechnet gut 178.000 Euro pro Meter. Die Bauzeit betrug erstaunliche 14 Jahre, was schon deswegen sensationell ist, weil die Linie im Schnitt von gerade einmal ungefähr 6.400 Fahrgästen pro Tag genutzt wird. Schilda, dein neuer Name ist Berlin.

Drachen über Tempelhof
    Da ich in diesen sonnigen Maitagen zukünftigen Vaterfreuden entgegensehe, darf ich endlich wieder ungestraft in Spielwarenabteilungen wildern. Also nehme ich Karl-Holger am Samstag zu Karstadt am Hermannplatz mit, um gemeinsam mit ihm für meinen in Ann-Maries Bauch heranwachsenden Sohn nach Flugdrachen zu gucken.
    »Was hältst’n von dem hier, Karl?«
    »Ist der nicht ein bisschen zu groß?«
    »Zu groß? Ab der Größe geht der Kick doch erst richtig los.«
    »Für dich vielleicht. Aber ich denke, der ist für deinen Kleinen – oder willst du den damit per Luftpost ins Ausland schicken?«
    »Nee, aber er soll doch stolz auf seinen Baba sein. Sieht doch cool aus, das Teil. Wie ’ne Kreuzung aus Adler und Airbus.«
    Karl seufzt und begutachtet sehnsüchtig die Master-Edition vom »Superhirn«, während seine Hände in den Taschen seines Kordjacketts wühlen.
    »Wenn du meinst.«
    »Ja, ich meine«, sage ich resolut, denn anders kannst du dich gegen Karl nicht durchsetzen. Und stapfe also zur Kasse, die Beute fest unter dem Arm.
    Als wir vor Karstadt auf den Hermannplatz hinaustreten, steht die Sonne hoch am Himmel. Es ist noch nicht mal Mitte Mai und schon richtig heiß. Beste Bedingungen für einen Jungfernflug. Während ich wilden Flugabenteuern entgegenfiebere, bleibt Karl erst einmal wie angewurzelt stehen und putzt sich ausführlich die Nase. Wie ich schon gestern gemerkt habe, ist das eine echte Marotte von ihm, mit der er aufkommende Unsicherheit zu überspielen versucht. Ist dabei auch egal, ob er die Nase wirklich voll hat oder nicht. Das ist eine regelrechte Zwangshandlung: das Stofftaschentuch entfalten – Menschen wie er haben immer Stofftaschentücher –, drei Mal kräftig durchblasen, dann den Fang begutachten, Taschentuch wieder zusammenfalten. Währenddessen ist Karl nicht ansprechbar. Als er nach einer gefühlten Stunde endlich seine voll geschnaubte Rotzfahne
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