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Das Geiseldrama

Das Geiseldrama

Titel: Das Geiseldrama
Autoren: Stefan Wolf
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1. Der Molch
und der Steckbrief
     
    In den Klassenräumen lief die
vierte Stunde ab, im Flur des Haupthauses war es still. Tarzan kam die Treppe
herab — aus dem zweiten Stock, wo seine Bude lag, das ADLERNEST. Er hatte
Freistunde — wie schön! — und eben einen zerrissenen Schnürsenkel seiner
Turnschuhe ausgewechselt.
    Hüpfend nahm er die Stufen.
Staub tanzte in den Strahlen der Sommersonne, die durch die Treppenhausfenster
hereinfiel. Seine Schritte waren lautlos. Deshalb hörte er das Geräusch: Hinter
der Ecke am Fuß der Treppe, also beim Schwarzen Brett, zerriß jemand Papier.
    Er stutzte, nahm dann sechs
Stufen auf einmal und stand schon im Flur. Dieser Sprung brachte ihn hinter
einen Mann, der — angespannt wie das schlechte Gewissen persönlich — beim
Schwarzen Brett stand.
    Er riß ein Plakat ab, entfernte
soeben die letzten Fetzen und stopfte sich das steife Papier unter die Jacke.
    „Was? Sie?“ sagte Tarzan. „Und
wir Schüler werden verdächtigt.“
    Hätte er den Mann mit einer
glühenden Nadel gestochen, wäre die Wirkung nicht anders gewesen. Er deutete
einen Luftsprung an und wirbelte herum.
    Wie ein Tier in der Falle!
dachte Tarzan. Tatsächlich! So sieht er jetzt aus. Aber gibt’s das: eine Falle
für Molche?
    Dr. Jens Dikal unterrichtete
Geschichte, Gegenwartskunde und Englisch. Er war einer der jüngeren Lehrer,
noch Studienassessor und hatte den Spitznamen ,Molch’. Ein wenig ähnelte er
diesem Lurchentier, allerdings erreichen Molche wohl kaum die stattliche Länge
von 190 cm, und sie tragen auch keine rotblonden Fransenbärte im Teiggesicht.
    „Was... was machst du hier?“
kläffte er Tarzan an.
    „Ich beobachte Sie.“
    „Was... Wieso bist du nicht in
der Klasse?“
    „Freistunde, Herr Doktor.“
    „Dann... mach’ dich irgendwie
nützlich!“
    „Mache ich, Herr Doktor! Denn
soeben entdecke ich, wer die Steckbriefe klaut.“
    Dikals Lippen lutschten an den
Bartfransen. Sein Giftblick wieselte zwischen Tarzan und der Tür des
Lehrerzimmers hin und her.
    „Was... willst du damit sagen?“
    „Aber, Herr Doktor, das weiß
doch jeder in unserer Schule. Sollten Sie der einzige sein, der davon keine
Kunde hat? Der Herr Direktor hielt es für richtig, am Schwarzen Brett den
Steckbrief der zur Zeit meistgesuchten Terroristen (Verbrecher, die eine
Schreckensherrschaft ausüben und Anschläge verüben) auszuhängen. Damit auch
wir Schüler wissen, wie diese Typen aussehen. Zweimal schon wurde der
Steckbrief heimlich abgerissen. Das müsse ein Schüler sein, hieß es, ein
Sympathisant (jemand, der mit einer Gruppe oder einer Anschauung
übereinstimmt). Herr Doktor, gab das ein Gezeter! Wären hier etwa
verblendete Umstürzler, politische Spinner mit krimineller Neigung — wurde
vermutet. Aber ich entsinne mich, Sie waren ja dabei, als der Direx seine Rede
schwang. Na, und jetzt. Sie sind der Steckbriefdieb! Wer hätte das gedacht!“
    „Bist du übergeschnappt?“ Dikal
ballte die Faust, ließ sie aber neben seiner ausgebeulten Cordhose hängen.

    „Bin bei klarem Verstand, Herr
Doktor! Und als Mitglied der Schülermitverwaltung fühle ich mich für meine
Kameraden verantwortlich. Die Gesamtheit der Schüler wurde zu Unrecht
verdächtigt. Tut mir leid, Herr Doktor. Ich muß Sie melden.“
    „Ach? Du bist wohl wiedermal
der Held des Tages, der alles in Ordnung bringt, wie? Aber deinen Verstand hast
du auf der Judomatte gelassen. Ich habe nicht den Steckbrief heimlich entfernt,
Peter Carsten, sondern die zerrissenen Reste, die hier noch hingen. Der
Steckbriefdieb hat zum dritten Mal zugeschlagen und alles zerfetzt. Vielleicht
wurde er gestört — und ließ deshalb die Fetzen hängen. Jedenfalls konnte das so
nicht bleiben. Deshalb, du Dummkopf, habe ich die Reste abgenommen, damit — dem
Unbekannten zum Trotz — der vierte Steckbrief angebracht wird.“
    Heiliger Moses! dachte Tarzan.
Jetzt hat er sich gefangen. Schlau, schlau, Doktor Molch! Was Ihnen so
einfällt. Gelogen ist es. Aber wie beweise ich das Gegenteil? Kann ich nicht.
Was der unter der Jacke hat, sind garantiert nur noch Fetzen. Also hat er sich
rausgeschlängelt, der Molch. Aber ich weiß jetzt, wer hier Sympathisant ist.
    „Oh, das tut mir aber leid,
Herr Doktor“, meinte er mit unbewegter Miene. „Da bin ich wohl übers Ziel
hinaus geschossen. Für falschen Verdacht — klar, für den entschuldige ich
mich.“
    Nicht aber für den richtigen!
setzte er in Gedanken hinzu. Und dich, Molch, werden wir im Auge
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