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Australien 02 - Der Sternenleser

Australien 02 - Der Sternenleser

Titel: Australien 02 - Der Sternenleser
Autoren: Kate Grenville
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Fenster war schon als graues Viereck wahrnehmbar. Der Tag brach hier in den Tropen viel zu schnell an, dieses strahlende karibische Licht hätte ein Kranker am liebsten gar nicht hereingelassen. Wie früher als Astronom wartete Rooke auch nun wieder ungeduldig auf die Dunkelheit. Er vermutete, dass die endgültige Dunkelheit nicht mehr fern war.
    Reglos, fast ohne zu atmen, lag er da. Er war froh, eine Weile nichts anderes zu spüren, als dass er existierte. Diese kurze Phase genoss er bewusst. Dann setzten die Schmerzen wieder ein, das dröhnende Hämmern in seinem Kopf, das Pochen hinter den Augäpfeln, das Ziehen in den Schultern, im Rücken, in den Beinen. Letztendlich war es nur eine Frage des Ausharrens; entweder man starb oder wurde wieder gesund.
    Im Guajavabaum draußen vor dem Fenster kreischten die Papageien. Ein weiterer elender Tag in diesem heißen Bett musste durchgestanden werden.
    Der Vorhang war an den Gardinenringen ausgerissen und hing schon die ganze Zeit, die er hier lag, an einem Ende herunter, ein Streifen Futterstoff baumelte herab. Rooke konnte diesen schiefen Vorhang, die kaputten Ringe und diesen schmalen Fetzen Stoff schon lange nicht mehr sehen. Tag für Tag hatte er, während er im Bett lag, den Riss geflickt und den Vorhang wieder an den Ringen befestigt – allerdings nur im Geiste. Schon seit Wochen reichte seine Kraft gerade noch dafür aus, sich im Bett aufzusetzen, sich zum Nachtstuhl zu schleppen und wieder zurück unter die Decke zu kriechen.
    Inzwischen war es hell genug, um andere vertraute Dinge erkennen zu können: die an einen Sternenhimmel erinnernden Schimmelflecken an der Decke und die Risse in der Bodenfliese, die wie die Umrisse Frankreichs aussahen. Vor seinem geistigen Auge sah er sich mit einem Eimer heißen Seifenwassers und einer Scheuerbürste am Boden knien. Die Risse in den Terrakottafliesen waren voller Dreck, die Oberfläche von einem Schmierfilm überzogen. Es war interessant zu beobachten – zumindest die ersten hundert Male –, wie die Schmutzschicht normalerweise unsichtbare kleine Unebenheiten des Fliesenbodens zum Vorschein brachte. Dort, wo die Ecke einer Fliese etwas niedriger lag als die der Fliese daneben, hatte sich ungestört Dreck festsetzen können. An den Stellen, wo eine Kante überstand, war der Dreck von darüberlaufenden Füßen weggerieben worden. Falls man einmal aus irgendeinem Grund eine absolut ebene Fläche brauchte – beispielsweise für ein Experiment mit Metallkugeln und ihren Bewegungsabläufen –, könnte man sich dieses Phänomen zunutze machen. Sollte er jemals eine so perfekte Oberfläche brauchen, würde er Dreck als Hilfsmittel verwenden, nahm Rooke sich vor.
    Rooke hielt es für ein gutes Zeichen, dass er nach wie vor methodisch und deduktiv zu denken vermochte.
    Henrietta, seine Bedienstete, war eine gute Frau. Aber sie hatte schon genug damit zu tun, ihn zu versorgen. Aus reiner Ehrerbietung heraus hatte sie noch vor seiner Erkrankung beschlossen, bei ihm zu bleiben. Rooke hatte ihr seit etwa einem Jahr schon keinen Lohn mehr zahlen können.
    »Sie haben uns Gutes getan«, sagte sie stets, wenn er sich entschuldigte. »Mir und uns.«
    Mit »uns« meinte sie natürlich die Sklaven. Rooke hatte ihnen sein Leben verschrieben.
    Nun ja, das klang etwas melodramatisch. Als er damit begann, war er knapp dreißig gewesen. Inzwischen war er vierundsiebzig und lag auf diesem heißen Bett. Man könnte grob zwei Drittel sagen, etwa zwei Drittel seines Lebens.
    Ganz exakt waren es zweiundzwanzig Siebenunddreißigstel seines Lebens. Er fragte sich, wie krank er wohl werden müsste, bis ihn dieser Drang verließ, alles in Zahlen auszudrücken und exakt zu berechnen.
    Sagen wir also zwei Drittel eines Lebens, das so vielversprechend begonnen hatte. Dann hatte er seine Wahl getroffen, die ihn hierher führte, in dieses Haus auf dem Hügel oberhalb des Englischen Hafens.
    All jene, die ihm eine große Zukunft prophezeit hatten, waren längst von ihm abgefallen, und all jene, die er geliebt hatte – seine Frau, sein Sohn und seine Tochter –, waren inzwischen tot oder anderswo. Wenn ein Mann so lang lebte wie er, konnte es vermutlich auch gar nicht anders sein, dachte Rooke. Jetzt waren nur noch er und Henrietta da.
    Er hörte sie unten in der Küche herumhantieren. Und das Miauen der Katze, die auf ihr Frühstück wartete.
    Henrietta würde gleich mit einem Stück Mango von dem Baum vor dem Haus und einem Teller kalter, gekochter
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