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Australien 02 - Der Sternenleser

Australien 02 - Der Sternenleser

Titel: Australien 02 - Der Sternenleser
Autoren: Kate Grenville
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befand. In der Welt der Church Street war Benjamin Rooke ein gebildeter und angesehener Mann, ein Vater, auf den man stolz sein konnte. Eine Meile entfernt, in der Marineakademie Portsmouth, war er etwas, wofür man sich schämen musste. Du meine Güte – ein Angestellter!
    Einer der Jungen zerrte sämtliche Kleidungsstücke, die Hemden und die Unterwäsche, die Rookes Mutter und Großmutter so sorgfältig angefertigt hatten, aus dem Koffer und schleuderte sie durch das Fenster in den matschigen Hof drei Stockwerke weiter unten. Ein Mann in einer wallenden schwarzen Robe zog Rooke schmerzhaft am Ohr und schlug ihn mit dem Rohrstock, als er zu erklären versuchte, dass nicht er das getan habe. Ein großer, kräftiger Junge schob ihn draußen hinter der Schulküche auf eine hohe Mauer und stach mit einem Stock auf ihn ein, bis Rooke sich schließlich gezwungen sah hinunterzuspringen.
    Sein Knöchel schmerzte immer noch von dem Sprung, doch das war nicht so schlimm wie der Schmerz in seinem Herzen.
    Seine Dachkammer in der Church Street umschloss ihn mit ihren Ecken und Winkeln, in ihrer Form ebenso eigenartig wie er. Die kalte Trostlosigkeit des Schlafsaals in der Akademie hingegen saugte die Seele aus ihm heraus und hinterließ eine leere Hülle.
    Wenn er samstagsabends von der Akademie zur Church Street ging, um den Sonntag zu Hause zu verbringen, war das wie eine Reise von einer Welt in die andere, die ihn jedes Mal fast zerriss. Weil seine Mutter und sein Vater so stolz und beglückt waren, dass ihr kluger Sohn auserwählt worden war, konnte er ihnen nichts von seinen inneren Konflikten erzählen. Seine Großmutter hätte ihn vielleicht verstanden, doch nicht einmal ihr gegenüber fand er die richtigen Worte, um seine Verlorenheit zu beschreiben.
    War dann wieder die Zeit zum Aufbruch gekommen, umklammerte Anne seine Hand fest mit ihren beiden Händchen, zog mit ihrem ganzen kindlichen Gewicht an ihm und bettelte, dass er dableiben solle. Obwohl sie nicht einmal fünf war, wusste sie instinktiv, dass ihr Bruder lieber in der Diele verwurzelt bliebe. Sein Vater löste ihre Finger einen nach dem anderen von Rookes Hand und scheuchte ihn lächelnd und winkend zur Tür hinaus, worauf Rooke nichts anderes übrig blieb, als ebenfalls zu winken und eine fröhliche Miene aufzusetzen. Während er die Straße hinaufging, konnte er Annes Heulen und die Tröstungsversuche seiner Großmutter hören.
    Obwohl die Akademie so viele große Männer hervorgebracht hatte, begeisterte sich dort niemand für die Zahlen, die Rooke Primzahlen zu nennen lernte. Auch an seinem Notizbuch, in dem er die Quadratwurzel aus zwei zu berechnen versuchte, zeigte keiner Interesse, oder daran, wie man mit der Zahl Pi herumspielen konnte und dabei überraschende Ergebnisse erzielte.
    Rooke lernte schließlich, dass wahre Klugheit darin bestand, solcherart Gedanken zu verbergen. Sie wurden zu etwas Beschämendem, zu einer geheimen Sache, die man nicht öffentlich zeigen durfte.
    Gespräche waren für ihn ein unlösbares Problem. Schien auf eine Bemerkung keine Antwort nötig zu sein, schwieg er eben. Bis er endlich lernte, wie es funktionierte, hatte er sich, ohne es zu merken, die Gunst einiger Jungen verscherzt. Danach war es zu spät.
    Bei anderen Gelegenheiten wiederum redete er zu viel. Äußerte sich jemand über das Wetter, konnte es vorkommen, dass er sich über die Verteilung der unterschiedlichen Niederschlagsmengen in Portsmouth in Begeisterung redete. Weitschweifig erzählte er dann von seinen Aufzeichnungen und dass auf seiner Fensterbank ein Glasgefäß stehe, in das er eine Messskala eingeritzt habe. Verbringe er den Sonntag zu Hause, nehme er das Glas natürlich mit, doch die Fensterbank dort sei dem vorherrschenden Südwestwind etwas mehr ausgesetzt als die Fensterbank in der Akademie und bekomme deshalb mehr Regen ab. Wenn er bis dahin gekommen war, hatte die jeweilige Person, die lediglich festgestellt hatte, was für ein schöner Tag es doch sei, längst das Weite gesucht.
    Er wäre zu gerne ein ganz normaler guter Junge gewesen, doch es gelang ihm nicht, anders zu sein, als er war.
    Mit der Zeit hasste er die protzige Kuppel auf dem Dach der Akademie mit der stolzen goldenen Kugel, hasste die weißen Ecksteine, mit denen die Fassade eingefasst war. Der Portikus des Haupteingangs wirkte zu schmal für die pompösen Säulen, die Tür mit dem kleinen Dreiecksgiebel darüber winzig wie ein Gesicht mit zu dicht beieinanderstehenden
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