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Australien 02 - Der Sternenleser

Australien 02 - Der Sternenleser

Titel: Australien 02 - Der Sternenleser
Autoren: Kate Grenville
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einen ganzen Monat.
    Er hoffte, dass alles Verstehen lediglich eine Frage des Maßstabs sei. Wenn man nicht nur eine Woche, ein Jahr oder ein ganzes Leben zur Verfügung hatte, sondern Jahrtausende, Äonen, würde sich herausstellen, dass hinter all den scheinbar ziellos umherziehenden Himmelskörpern und den irdischen Veränderungen eine Bedeutung steckte. Manche Ordnungen waren zu riesig, als dass ein Mensch sie erkennen konnte. Man konnte jedoch darauf vertrauen, dass unter der Kakophonie eines jeden menschlichen Lebens eine kosmische Brevis mitschwang.
    So wie der Kaplan sein Evangelium, hatte Rooke seinen eigenen heiligen Text, in dem sich sein Gott verständlich machte: die Mathematik. Dem Menschen war ein Gehirn gegeben worden, um in Zahlen denken zu können, und es konnte kein Zufall sein, dass sich die Welt durch genau dieses Werkzeug erschließen ließ. Um irgendeinen Aspekt des Kosmos zu verstehen, musste man auf das Antlitz Gottes schauen, nicht direkt, sondern durch eine Art Triangulierung, denn mathematisch zu denken hieß, das Handeln Gottes in sich selbst zu spüren.
    Er sah, dass andere von ihren Vorstellungen von Gott getröstet wurden: als einem strengen, aber gütigen Vater oder einem Bruder, der eine Last mit ihnen teilte. Was Rooke hingegen tröstete, war das Wissen, dass er als Einzelner nicht von Bedeutung war. Was immer er auch sein mochte, er war Teil einer Ganzheit, ein einziger unbedeutender Ton innerhalb der großen Fuge des Daseins.
    Das verlangte eine Moral, die über die knappe Handvoll Gebote im Buch des Kaplans hinausging. Man musste die Einheit aller Dinge anerkennen. Verletzte man einen Teil, beschädigte man alles.
    Rooke träumte davon, diesen Ort zu verlassen, nicht nur die Akademie, sondern Portsmouth mit seinen Häusern, die sich dicht um den Hafen drängten, mit diesen engen Straßen, in denen ihn jeder zu gut kannte, Benjamin Rookes Ältesten, ein ganz netter Junge, nur ein bisschen weltfern.
    Nichts deutete darauf hin, doch er glaubte fest daran, dass eines Tages irgendwo auf der Welt ein Ort für einen Menschen wie ihn zu finden sein würde.


    I m Jahr 1775 wurde Rooke dreizehn, und Dr. Adair nahm seinen begabten Schüler nach Greenwich mit, um ihn seinem Freund, dem königlichen Astronomen, vorzustellen.
    Noch nie zuvor war Rooke so weit von zu Hause fortgewesen. Während der ganzen Reise starrte er gebannt aus dem Kutschenfenster auf alles, was vorüberzog, alles so fremd wie das tiefste Afrika. Jeder schlammige Weiler war ihm unbekannt, jeder gaffende Landarbeiter ein Fremder. Am Ende des Tages war er von dem vielen Neuen, das er gesehen hatte, regelrecht berauscht.
    Dr. Vickery war ein Mann mittleren Alters mit schweren Hängebacken und müden Augen, die immer wegglitten, wenn man ihn ansah. Rooke merkte es gleich: Auch dem Astronom fiel es schwer, anderen Menschen in die Augen zu blicken.
    In dem sechseckigen Raum mit den hohen, langen Fenstern zu stehen, in dem Halley die Bahn seines Kometen berechnet hatte, überwältigte Rooke so sehr, dass er die Begrüßung des königlichen Astronomen nicht in gebührender Weise erwiderte. Dr. Vickery nahm jedoch keinen Anstoß an der Unbeholfenheit des Jungen. Er zog ihn zu der Wand hinüber, an der ein riesiger Viertelkreis aus Messing hing, mit einer so fein gravierten Skala um den Rand herum wie die Ziselierung auf Dr. Adairs goldener Uhr.
    »Master Rooke, dieser Quadrant wird Sie interessieren. Ein Radius von acht Fuß, und sehen Sie die auf dem Bogenrand eingeritzte Gradeinteilung? Hergestellt von John Bird aus London nach der Methode fortgesetzter Halbierung.«
    Er blickte kurz zu dem Jungen, der Quadranten nur aus Büchern kannte und keine Ahnung hatte, was unter der Methode fortgesetzter Halbierung zu verstehen war.
    »Verzeihen Sie meine Begeisterung, Master Rooke. Wissen Sie, es gibt Tage, da warte ich, anders als der Rest der menschlichen Spezies, ungeduldig auf die Nacht. Und das in einem solchen Maße, dass meine Frau immer sagt, ich müsse in meiner Natur etwas von einer Fledermaus haben!«
    Rooke merkte, dass dies scherzhaft gemeint war – ein Versuch, ihm die Befangenheit zu nehmen. Er dachte aber auch, dass Mrs. Vickery diese seltsame Eigenschaft ihres Mannes genau auf den Punkt gebracht hatte.
    Zwei Wochen lang blieb er in Greenwich und hatte zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, am richtigen Ort zu sein.
    Dr. Vickery erläuterte ihm die Geheimnisse des Quadranten und des Dollond-Fernrohrs, ließ ihn
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