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Australien 02 - Der Sternenleser

Australien 02 - Der Sternenleser

Titel: Australien 02 - Der Sternenleser
Autoren: Kate Grenville
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haben sollte – nachgewiesen hatte.
    Vergeblich wünschte sich Rooke, dass Euklid oder Kepler noch lebten, um sich mit ihnen unterhalten zu können. Die von ihnen beschriebene Welt war wohlgeordnet, alles hatte seinen Platz. Vielleicht sogar ein Junge, der keinen Platz zu haben schien.
    Als der Kaplan herausfand, dass Rooke das absolute Gehör hatte, erschien ihm das wie ein weiterer Fluch.
    »Cis!«, rief er, und Rooke lauschte in sich hinein und sang einen Ton. Der Kaplan hieb mit dem Finger auf die Klaviertaste ein.
    »B, Rooke, gibst du mir bitte ein b?«
    Rooke lauschte und sang, und der Mann drehte sich auf dem Klavierstuhl mit solch heiß glühenden Wangen zu ihm um, dass Rooke einen schockierten Augenblick lang glaubte, er wolle ihn küssen. Im Chorgestühl hinter ihm kicherten die Klassenkameraden, und Rooke wusste, er würde später dafür büßen müssen.
    Doch sobald seine Beine lang genug waren, brachte ihm der Kaplan in der Kapelle das Orgelspiel bei. Für Rooke öffnete sich eine Tür in eine ihm bislang verschlossen gebliebene Welt.
    Er liebte die Logik der Notation, wie die Grundeinheit der Brevis, der Doppelganzen, in immer kleinere Notenwerte zerlegt werden konnte. Selbst die schnellste Vierundsechzigstelnote war Teil dieser Grundeinheit, mitschwingende Töne, die bewusst kaum wahrgenommen wurden, aber zur Klangfülle beitrugen.
    Und dann das Instrument selbst. Eine Orgel war nichts weiter als Dutzende von Luftröhren. Jede Pfeife konnte nur einen einzigen Ton erzeugen, brachte keinen anderen hervor: eine Pfeife, ein Ton. Jede stand an ihrem Platz neben den anderen, ihr Metallmund offen, gefüllt mit Luft, die darauf wartete, in Bewegung versetzt zu werden. Rooke saß zwanzig Meter entfernt am anderen Ende der Kapelle am Manual, schlug einen Akkord an und lauschte, wie jede Pfeife ihren Ton sang. Er hätte weinen können vor Dankbarkeit, dass die Welt solch herrliche Klänge zu bieten hatte.
    Stundenlang saß er in der Kapelle und arbeitete sich bedachtsam durch die Fugen. Ein Dutzend Töne, schwerlich Musik zu nennen. Doch andererseits sprachen diese wenigen Noten miteinander, mit Thema und Antwort, durch Wiederholungen, Diminutionen und Augmentationen, oder bewegten sich sogar rückwärts wie die rückläufige Planetenbahn des Mars. Rooke lauschte, als hätte er genauso viele Ohren wie Fingerspitzen, und konnte wie ein Blinder kaum vorhandene Strukturen fühlen. Nach zwei oder drei Seiten Musik verwoben sich sämtliche Stimmen zu einer Konstruktion von solch schwindelerregender Gewalt, dass sie fast die Wände der Kapelle sprengten.
    Andere, die des stundenlangen ununterbrochenen Klanges von Buxtehude und Bach überdrüssig wurden, beschwerten sich, dass da keine Melodie sei. Genau das war es, was Rooke an den Fugen am besten gefiel, die Tatsache, dass sie nicht gesungen werden konnten. Eine Fuge war nicht singularisch wie eine Melodie, sondern pluralisch. Sie war ein Gespräch.
    Auf der Orgelbank, mit dem Rücken zu den voll besetzten Kirchenbänken, ließ er Hunderte von Predigten über sich ergehen, und dann mümmelte er die Bröckchen Brot und nippte mit den anderen am Abendmahlskelch. Aber der Gott der Sünde und der Vergeltung, der Mysterien des Leidens und Auferstehens, sprach nicht zu ihm. Rooke lag mit Gott nicht im Streit, doch für ihn war Gott in diesen Worten oder Ritualen nicht enthalten.
    Rooke hatte Gott im Nachthimmel gesehen, lange bevor er dessen Muster verstand. Wie sich die Gesamtheit der Sterne zusammen als eine Einheit bewegte, hatte er immer als wunderbar und beruhigend empfunden.
    An den langen Winterabenden stahl sich Rooke an der Schulküche vorbei nach draußen, blieb im Hof stehen und blickte zum Himmel hinauf. In der Kälte waren die Sternbilder nah und strahlend. Es beruhigte ihn, dass der Fuhrmann und der Kleine Bär, die den Himmel miteinander umkreisten, immer zu finden waren. Keiner dieser Lichtpunkte dort oben musste sich seinen Weg allein durch die Dunkelheit suchen, sondern bewegte sich zusammen mit seinen Gefährten, allesamt durch eine mächtige Hand an ihrem Platz festgehalten.
    Dass der Mond manchmal ein dünner Splitter war und manchmal eine Scheibe, hatte Rooke als Kind für einen raffinierten Trick gehalten. Doch als er den Grund dafür verstand, war er von Ehrfurcht ergriffen gewesen. Da existierte tatsächlich ein Muster, er hatte lediglich auf einer falschen Skala danach gesucht. Eine Woche reichte nicht aus, um das Muster zu erkennen, man brauchte
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