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Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land

Titel: Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
Autoren: Bettina Gaus
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ist, schaut ihn immer wieder an, bevor er antwortet. Die 21-jährige Amber schweigt. Das Mädchen sieht auf seltsame Weise alt aus und wirkt zugleich jünger, als sie ist. Die Haut ist unrein, die Haare hängen ungepflegt und strähnig herunter. In den Augen liegt eine abgestumpfte, gleichgültige Müdigkeit, die so allumfassend und tief zu sein scheint, dass man Amber kaum anschauen mag, um nicht selbst sofort müde und traurig zu werden. Sie wohne mit ihren Eltern hier. Sagt Anthony.
    Die beiden Jungen sind wissbegierig: Ob es stimme, dass Jugendliche bei uns Alkohol trinken dürften? Und dass es bei uns in Deutschland keine Geschwindigkeitsbegrenzungen gebe? Plötzlich habe ich den Eindruck, aus einem anarchistischen Teenager-Paradies zu stammen. Ein merkwürdiges Gefühl. Als ich die Regeln etwas genauer erkläre, malt sich Enttäuschung auf den Gesichtern.
    Gegenüber von dem Vorplatz, auf dem wir sitzen, liegt eine große, freie Wiese. »Da darf zehn Jahre niemand hin«, erklärt Anthony. »Weil der Boden mit irgendetwas verseucht worden ist.« Womit? Er zuckt die Schultern. »Keine Ahnung.« Anthony hasst das Leben hier. »Wissen Sie, wie die Leute uns nennen?«, fragt er mit schiefem Lächeln und beugt sich nach vorn: »Trailer-Müll.«
    Er hätte eine Chance gehabt, hier herauszukommen. Anders als seine Freunde hat er einen High-School-Abschluss, und ihm war ein College-Stipendium in Aussicht gestellt worden, weil er ein sehr guter Ringer ist. »Nach nur einem Jahr Training der Viertbeste in Connecticut.« Aber dann wurde er mit Drogen erwischt. Nimmt er die immer noch? Anthony schweigt. Und grinst. Was nicht bedeutet, dass er seine Situation lustig findet: »Ich denke jeden Tag daran, dass ich es versaut habe«, sagt er leise.
    Jetzt arbeiten er und Jeremy als Landschaftsgärtner: schwere, körperliche Arbeit für ungelernte Kräfte. Elf Dollar verdienen sie in der Stunde. Der Mindestlohn in Connecticut liegt bei 7,65 Dollar – höher als in den meisten anderen US-Bundesstaaten, aber hier sind eben auch die Lebenshaltungskosten höher als anderswo. Der Mindestlohn wird nur selten bezahlt, vielfach an Teenager für Aushilfsjobs. Mit elf Dollar pro Stunde kann man keine großen Sprünge machen. Als ungelernte Arbeiter dürften die Jungen im Trailer-Park festsitzen. Immerhin: sie arbeiten. Amber tut gar nichts. Was würde sie denn gerne tun, wenn sie es sich aussuchen könnte? Ganz kurz kommt plötzlich Leben in diese stumpfen Augen: »Nach Kalifornien ziehen. Weit, weit weg.« Sie ist noch niemals dort gewesen, aber sie stellt es sich wunderschön vor. Dann zuckt sie die Schultern und versinkt erneut in brütendes Schweigen.
    Auch Anthony hat Träume. Er wünscht sich, in eine Organisation für Kampfsportarten aufgenommen zu werden, um an nationalen Wettkämpfen teilnehmen zu können. Demnächst will er anfangen, dafür zu trainieren. Ganz bestimmt. »Und dann baue ich mir eine Villa, die so groß ist wie die ganze Wiese hier.« Weit holt er mit den Armen aus, über das ganze verseuchte Gebiet zeigend.
    Ein sportlicher junger Mann mit Schulabschluss, der gerne den sozialen Absprung schaffen möchte: Das sind genau die Leute, nach denen Rekrutierungsstellen in den USA derzeit suchen. Hat Anthony schon mal daran gedacht, zum Militär zu gehen? Ja. Daran gedacht schon. Aber: »Haben Sie gehört? Da draußen findet ein Krieg statt. Da muss ich nicht dabei sein.«
    Anthony ist Kriegsgegner. Er findet, die USA sollten sich aus Konflikten in anderen Teilen der Welt heraushalten und sämtliche Nuklearwaffen abschaffen. Das zeugt nicht gerade von Herrschaftsträumen und Allmachtsfantasien. Was bedeutet es den Jugendlichen eigentlich, dass sie Bürger einer Weltmacht sind? Amber schweigt. Jeremy ist die Tatsache eher unbehaglich: »Das zieht zu viel Aufmerksamkeit auf uns. Das führt nur dazu, dass die Leute uns nicht mögen.« Anthony sagt einen Satz, den ich im Verlauf dieser Reise noch oft hören werde: »Ich bin stolz, Amerikaner zu sein.« Dann fügt er hinzu: »Aber ich bin nicht stolz auf alles, was wir getan haben.« Was er damit meint? Zum Beispiel den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.
    Ich stehe auf, um mich zu verabschieden. »Machen Sie sich nichts vor«, sagt Anthony unvermittelt. »Es dreht sich alles nur um Geld. Ausschließlich um Geld. Vielleicht ist das woanders nicht so. Aber hier in Connecticut schauen alle nur darauf. Und wenn du in einem Trailer-Park wohnst, dann wissen alle, dass
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