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Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land

Titel: Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
Autoren: Bettina Gaus
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in Maryland. Eine gesicherte Existenz. » Bevor ich in die USA kam, habe ich sieben Jahre in Deutschland gelebt.« Es ist erstaunlich, wie oft man einen solchen Satz hier hört. Bitburg, Frankfurt, Heidelberg: Vor allem Soldaten und deren Angehörige, aber auch viele Geschäftsleute und Studenten verschlägt es für einige Zeit zu uns. Fast alle erinnern sich begeistert an Weinfeste, an Berge, an Fachwerkhäuser und an Autobahnen ohne Tempolimit.
    Eigentlich möchte ich jetzt nicht so dringend über Deutschland sprechen. Die USA interessieren mich mehr. Aber ich will auch nicht unhöflich sein. »Wie nett. Hat es Ihnen da gefallen?« Nancy Pfeifer schaut mich an. Ganz ruhig. Nicht unfreundlich, aber ohne zu lächeln. Es dauert lange – endlos lange –, bis ich begreife und zurückrechne. Sie war Zwangsarbeiterin. 1942 muss sie nach Deutschland gekommen sein, im Alter von 19 Jahren. So alt ist heute meine Tochter. Als Nancy merkt, dass ich endlich verstanden habe, beginnt sie zu erzählen.
    Wie sie damals zum ersten Bauern kam, in die Nähe von Bayreuth. Wie ihr schlecht wurde – warum auch immer, Kreislauf, Migräne, irgendetwas – und wie sie sich hingelegt hat. Wie die Bauersleute sie schlafend gefunden haben. Die haben dann die Polizei gerufen. »Den Gendarmen«, sagt Nancy. Das Wort klingt wie aus einer Zeit, die schon sehr lange vergangen ist. Das macht es leichter, zuzuhören. Etwas leichter.
    Der Gendarm habe sie ins Gesicht geschlagen. Und gesagt, am nächsten Morgen um sechs Uhr käme er zurück. Die ganze Nacht habe sie darüber nachgedacht, was das wohl bedeuten könne. Dann wusste sie es: Sie wurde in ein Auto verfrachtet und ins Gefängnis gebracht. Dunkel sei es da gewesen, sehr dunkel. Einen ganz kleinen Lichteinfall habe es gegeben, links oben in der Zelle. Nancy deutet in eine Ecke, von ihrem bequemen Sofa aus mit den vielen Kissen, über dem ein Öl-Stillleben und das Foto eines Birkenwaldes hängen. Plötzlich sieht man nur noch die Zelle, nicht mehr den behaglich eingerichteten Raum.
    Wie lange sie im Gefängnis bleiben musste, weiß sie nicht mehr genau. Zwei oder drei Wochen. Dann habe ein anderer Bauer sie freigekauft. Freigekauft. Der und seine Familie seien nett gewesen. »Es war ein Zuhause.« Was soll man dazu jetzt sagen? Dass einem alles wirklich von Herzen leidtut? Ja, das sagt man. In Ermangelung angemessenerer Sätze. Sie lächelt wieder: »Es ist nicht Ihre Schuld.« Nein, das ist es nicht, und das weiß ich auch. Ich bin 1956 geboren.
    Aber es geht ja nicht nur um Schuld. Nicht einmal in erster Linie. Es gibt so viele Länder, in denen man als Deutsche bis auf den heutigen Tag begründeten Anlass zu der Sorge hat, auf Menschen zu treffen, an denen die eigenen Landsleute grauenvolle Verbrechen verübt haben. In Europa bin ich innerlich darauf vorbereitet, dass es zu solchen Begegnungen kommen kann. In den USA nicht, wie ich jetzt feststelle. Schon gar nicht beim ersten ausführlichen Gespräch, das ich hier führe. Das abstrakte Wissen, dass die Emigration nach Amerika oft eine Flucht vor Hunger oder Verfolgung war, wird plötzlich sehr konkret.
    Hat Nancy Pfeifer je eine Entschädigung bekommen? Nein. Hat sie eine beantragt? Das weiß sie nicht so genau. Ihre Tochter kümmert sich um alle finanziellen Angelegenheiten. Hilfe suchend schaut sie ihren Freund an: »Habe ich eine Entschädigung beantragt?« Der hat keine Ahnung. »Ich muss mich vielleicht doch mal selber kümmern«, sagt sie unsicher. Zu spät. Die Frist, innerhalb derer sie einen Antrag hätte stellen können, ist im letzten Jahr abgelaufen. Ich wage nicht, der alten Frau das zu sagen.
    Aber gottlob will sie jetzt auch nicht mehr über den Krieg reden, sondern endlich über den Trailer. Erkennbar stolz ist sie auf ihr mobiles Haus – ihr theoretisch mobiles Haus. Sie hat nicht die Absicht, jemals wieder umzuziehen. Seit zwei Jahren wohnt sie jetzt hier, und sie ist nach Branford gekommen, weil ihre Tochter da lebt. Das Eigenheim in Maryland war ihr nach dem Tod des Ehemannes zu groß geworden, und der Schwiegersohn verdient seinen Lebensunterhalt damit, mobile Häuser aufzustellen. So fügte sich eins zum anderen. Der Aufbau dauert übrigens ein paar Tage. Es ist schwieriger, als man denken sollte, die Räder so im Erdreich zu verankern, dass sie die Stabilität des Gebäudes nicht gefährden.
    Das Haus bietet auf knapp einhundert Quadratmetern Wohnfläche überraschend viel Komfort. Zwei Schlafzimmer, zwei Bäder.
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