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Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land

Titel: Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
Autoren: Bettina Gaus
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gibt auch hier Problemgebiete. Der Niedergang der verarbeitenden Industrie hat dazu geführt, dass Hartford in Connecticut und Providence in Rhode Island mittlerweile zu den ärmsten Städten der USA gehören. Aber die Gesamtstatistik ist zu gut, als dass solche Schönheitsflecken sie verderben könnten.
    Was andernorts auf der Welt gilt, gilt auch hier: je wohlhabender ein Land oder eine Region ist, desto liberaler ist die Bevölkerung. Kalender mit bösen Schnappschüssen von Präsident George W. Bush und Schlüsselanhänger mit einem batteriebetriebenen Countdown bis zum Ende seiner Amtszeit gehören zum festen Sortiment von Buchhandlungen und Andenkenläden. Die berühmtesten Universitäten der Vereinigten Staaten – Harvard und Yale – liegen in Neuengland. Massachusetts ist im Herbst 2007 der einzige Bundesstaat der USA, in dem die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt ist und auch als Ehe bezeichnet wird. Die Kennedy-Brüder sind hier geboren. Der zum Zeitpunkt meiner Reise 75-jährige Edward Kennedy, jüngster von ihnen und der letzte Überlebende, vertritt den Staat bis heute im US-Senat.
    Die Region gilt als die Wiege der USA. Ob diese Deutung der Geschichte stimmt – darüber lässt sich streiten. Zumindest ist diese historische Interpretation, wie ich Monate später in Virginia lernen werde, ebenso kleidsam wie verkürzt. Dort hatten abenteuerlustige Männer nämlich, schon Jahre bevor die Mayflower in See stach, eine Siedlung gegründet. In kommerziellem Auftrag.
    Ungeachtet dessen ist die Gründungslegende der Vereinigten Staaten älter als die Gründung selbst und zugleich bis heute lebendig. Wer seine Vorfahren bis an Bord der Mayflower zurückverfolgen kann, darf sich zum republikanischen Hochadel zählen. Selbst dann, wenn der Urahn nur Schiffsjunge gewesen ist. Und zwar deshalb, weil viele Passagiere des Segelschiffs aus Angst vor religiöser Verfolgung – kleidsamer ausgedrückt: auf der Suche nach Freiheit – den Schritt wagten, in die Neue Welt aufzubrechen. Dass die freiheitsdurstigen Pioniere auf der Mayflower so freiheitsdurstig nicht mehr waren, als sie selbst das Sagen hatten, dass sie in ihrer religiösen Intoleranz gegenüber Andersgläubigen jenen nicht nachstanden, von denen sie selbst verfolgt worden waren – das steht auf einem anderen Blatt.
    Es lassen sich auch andere gute Gründe für die historische Interpretation finden, der zufolge die USA in Neuengland geboren wurden. Nach einem langwierigen Streit mit dem Mutterland über Zölle und Steuern wurden in Boston am 16. Dezember 1773 die Teeladungen von drei Schiffen einer englischen Handelsgesellschaft ins Hafenbecken der Stadt geworfen. Die Boston Tea Party gilt als Initialzündung für den Krieg mit England, der mit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten endete.
    Dieser Krieg ist eine Erfolgsgeschichte, wie ja insgesamt die Gründung der USA als Erfolg gilt und folglich der Stoff ist, aus dem Legenden gestrickt werden. Die Sehnsucht ist groß nach dem, was hier unter der »guten alten Zeit« verstanden wird. In Plymouth, dessen Innenstadt wie eine überdimensional große Puppenstube wirkt und an dessen Hafen eine naturgetreue Nachbildung der Mayflower liegt – die Mayflower II –, sind nur noch wenige Hotelzimmer zu bekommen. Wegen der Festlichkeiten zum 50. Jahrestag der Ankerung von Mayflower II kosten die ungefähr das Vierfache dessen, was ich sonst für eine komfortable Unterkunft aufwenden muss.
    Pauschalreisen an die Stätten des kulturellen und geistigen Erbes der USA sind beliebt. Zeitgleich mit mir kommt eine Busladung voll vergnügter Rentner in dem einzigen erschwinglichen Motel der Umgebung an, etwa 30 Kilometer von Plymouth entfernt. Sie haben eine »Heritage Tour« gebucht, eine Reise zum kulturellen Erbe, und sie haben dabei erkennbar eine nette Zeit. Bin ich in Deutschland immer nur an den falschen Orten unterwegs – oder gibt es hier in den USA wirklich viel mehr reiselustige, neugierige und fröhliche alte Menschen als bei uns? Ich werde mich das nicht zum letzten Mal fragen.
    Mit der historischen Wahrheit wird es bei den Reisen in die Vergangenheit allerdings nicht immer so genau genommen. Beispiel: »Plymouth Rock«. Eine der größten Attraktionen des Ortes, in dessen Nähe sich die Passagiere der Mayflower dauerhaft niederließen. Angeblich ist dieser Findling der Platz, an dem die Pilger 1620 erstmals ihren Fuß auf den Boden des amerikanischen Festlandes gesetzt haben. Also: gewissermaßen
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