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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
Autoren: Mitch Albom
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Am Anfang …

    A m Anfang stand eine Frage.
    »Würden Sie meine Trauerrede halten?«
    Ich verstehe nicht recht, antwortete ich.
    »Meine Trauerrede?«, fragte der alte Mann noch einmal. »Wenn ich gehe.« Er blinzelte hinter seinen Brillengläsern. Sein ordentlich gestutzter Bart war grau, und er stand ein wenig gebeugt.
    Sterben Sie denn bald?, fragte ich.
    »So schnell nun auch wieder nicht«, antwortete er und grinste.
    Aber warum –
    »Weil ich Sie für eine gute Wahl halte. Und weil ich glaube, dass Sie wissen werden, was Sie sagen sollen, wenn die Zeit gekommen ist.«
    Stellen Sie sich den frömmsten Mann vor, den Sie kennen. Ihren Priester. Ihren Rabbiner. Ihren Imam. Und nun stellen Sie sich vor, wie er Ihnen auf die Schulter klopft und Sie darum bittet, seinen Abschied von der Welt zu zelebrieren, wenn er gestorben ist.
    Stellen Sie sich vor: Der Mann, der von Berufs wegen Menschen ins Himmelreich schickt, bittet nun Sie darum, ihn ins Himmelreich zu schicken.
    »Und?«, sagte er. »Würden Sie das machen?«
    Am Anfang stand noch eine weitere Frage.
    »Wirst du mich retten, Jesus?«
    Der Mann hielt ein Gewehr in Händen und versteckte sich mitten in der Nacht vor einem Reihenhaus in Brooklyn hinter Mülltonnen. Seine Frau und seine kleine Tochter weinten. Der Mann hielt Ausschau nach Scheinwerfern, weil er glaubte, dass in dem nächsten Auto seine Mörder sitzen würden.
    »Wirst du mich retten, Jesus?«, fragte er. »Wirst du mich retten, wenn ich verspreche, dir von nun an zu folgen?«
    Stellen Sie sich den frömmsten Mann vor, den Sie kennen. Ihren Priester. Ihren Rabbiner. Ihren Imam. Und nun stellen Sie sich vor, wie er in schmutzigen Kleidern mit einem Gewehr in der Hand hinter Mülltonnen hockt und Jesus anfleht, ihn zu erretten.
    Stellen Sie sich vor: Der Mann, der Menschen ins Himmelreich schickt, fleht darum, nicht in die Hölle zu kommen.
    »Bitte, Herr«, flüstert er. »Wenn ich gelobe …«
    Diese Geschichte handelt davon, wie ich lernte, an etwas zu glauben. Und sie handelt von zwei sehr unterschiedlichen Männern, die mir das beigebracht haben. Ich brauchte sehr lange, um diese Geschichte zu schreiben. Sie führte mich in Kirchen und Synagogen, in große Städte und Vororte und zu den Barrieren »wir« und »die anderen«, die überall auf der Welt den Glauben spalten.
    Und schließlich führte sie mich nach Hause zurück, in eine Synagoge voller Menschen, zu einem Sarg aus Kiefernholz, zu einem leeren Pult.
    Am Anfang stand eine Frage.
    Diese Frage wurde zu einem letzten Wunsch.
    » Würden Sie meine Trauerrede halten? «
    Und, wie so oft in Glaubensdingen, nahm ich an, dass ich um etwas gebeten worden sei. Doch in Wirklichkeit bekam ich etwas geschenkt.

FRÜHLING
    SOMMER
    HERBST
    WINTER

Im Jahre 1965 …

    … werde ich von meinem Vater am Samstagmorgen zum Gottesdienst vor dem Gemeindehaus abgesetzt.
    »Du musst gehen«, sagt er.
    Ich bin sieben Jahre alt und damit zu jung, um die naheliegende Frage zu stellen: Wieso muss ich gehen, er aber nicht? Ich gehorche, betrete das Haus und gehe einen langen Flur entlang zu dem kleinen Synagogenraum, in dem die Gottesdienste für Kinder abgehalten werden.
    Ich trage ein kurzärmliges weißes Hemd und eine Clipkrawatte. Ich öffne die Holztür. Auf dem Boden krabbeln kleine Kinder.
    Drittklässler gähnen. Sechsklässlerinnen in schwarzen Baumwollgymnastikanzügen sitzen in Grüppchen zusammen und flüstern miteinander.
    Ich nehme mir ein Gebetbuch. Die hinteren Plätze sind alle besetzt, und ich setze mich nach vorne. Plötzlich öffnet sich die Tür, und es wird still.
    Der Mann Gottes tritt ein.
    Er ist riesengroß und hat dichtes schwarzes Haar. Er trägt ein langes Gewand, und wenn er spricht, wedelt es an seinen Armen wie ein Blatt im Wind.
    Er erzählt eine Geschichte aus der Bibel und stellt uns Fragen. Während er auf unsere Antworten wartet, schreitet er über die Estrade und kommt dabei immer näher zu mir. Mir bricht der Schweiß aus, und ich bitte Gott, mich unsichtbar zu machen. Bitte, Gott, bitte .
    Das ist mein inbrünstigstes Gebet an diesem Tag.

MÄRZ
Die Tradition des Weglaufens

    A dam versteckte sich im Garten Eden. Jonas flüchtete vor Gott auf ein Schiff und wurde vom Wal verschlungen.
    Der Mensch möchte vor Gott weglaufen – das ist eine alte Tradition. Ich folgte also in gewisser Weise nur der Tradition, als ich anfing, vor Albert Lewis wegzulaufen, kaum dass ich gehen konnte. Er war natürlich nicht Gott, aber in
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