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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers
Autoren: Will Berthold
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»wie eine Megäre aussieht?«
    Er ließ den Spiegel auf den Boden fallen, klatschte in die Hände, als müßte er sie abstauben, und ging quer durch das Foyer, vorbei an Menschen, deren Augen ihm auswichen, wenn sie seinem Blick begegneten. Er ging ruhig und gelassen, in eine Freiheit ziehend, die mit Spott aufgewogen werden müßte.
    Christian sah auf das Datum der Zeitung, die er las, und merkte, daß er ein erstes Jubiläum zu begehen hätte. Er war bereits eine Woche hinter den geschlossenen Türen der Anstalt Siebenberge. Es schien ihm, als wäre er aus dem Irrenhaus der Welt in eine friedliche Oase geflüchtet.
    Fast hatte er ein wenig Mitleid mit Erik und Jutta, deren Anstrengungen ihm galten, Zumindest über die Feiertage würde er sich hier sehr wohl fühlen.
    Er griff zur nächsten Zeitung:
    IN DER SCHWEIZ WERDEN EICHENSÄRGE, DIE DIE VERMODERUNG ZU LANGE ÜBERSTÜNDEN, WEGEN PLATZMANGELS AUF DEN FRIEDHÖFEN VERBOTEN … AN DEN MEDIZINISCHEN AUSBILDUNGSSTÄTTEN HERRSCHT KRASSER LEICHENMANGEL … ELF EVANGELISCHE UND ELF KATHOLISCHE GEISTLICHE SPIELTEN ZUGUNSTEN DES FONDS ›KINDER IN NOT‹ FUSSBALL. DER REINGEWINN BETRUG 132 MARK. DIE BEIDEN CHRISTLICHEN KIRCHEN BESCHLIESSEN DAS JAHR MIT EINER REKORDEINNAHME VON MEHR ALS DREI MILLIARDEN KIRCHENSTEUERN … DIE BUNDESWEHR VERLOR IHREN 84. STARF1GHTER … AKUTE KRIEGSGEFAHR IN NAHOST … DER PAPST ZIEHT SICH ZUM GEBET IN SEINE PRIVATKAPELLE ZURÜCK.
    Christian schob die Zeitungen beiseite. Er wußte nicht, warum er sie las. Länder und Schauplätze mochten sich ändern, nie das Geschehen.
    Oder doch?
    Er mußte laut lachen, als er las, daß Sebastian Schindewolff, der Kronprinz des gleichnamigen Konzerns, in eine Berliner Kommune eingetreten sei. Allein der Umstand, daß eine Zeitung wagte, diese Meldung zu bringen, ließ auf einen Zerfall der Familie schließen. Aglaias Kultur-Soireen wären wohl bald umschattet: ein Erbe in der Klapsmühle, der zweite ein milchbärtiger Maoist und der dritte auf – wenn auch platonischen – Abwegen.
    Sonst war es auf diesem Flügel des Hauses sehr ruhig, aber die Weihnachtsfeier des Personals, die heute abend stattfinden sollte, füllte das Haus mit Geschäftigkeit. Die Wärter, weniger an der Zahl als sonst, gaben sich freundlich, und Dr. Jungmann, Christians Gutachter, hatte heute für seine Patienten noch mehr Zeit. Christian war ihm auf dem Gang begegnet.
    »Wie fühlen Sie sich?« fragte der Psychiater.
    »Danke«, erwiderte Christian.
    »Sie sehen auch schon viel besser aus.«
    Während der Mediziner mit ihm sprach, kam ein anderer Patient mit schlürfenden Schritten den Gang entlang, mittelgroß, schlank, ein Bärtchen, gescheitelte Haare mit einer Tolle. Er streckte den Arm aus, als er an den beiden vorbeikam, und auch der Arzt hob seine rechte Hand. »Heil, mein Führer«, sagte Dr. Jungmann, und Christian erhielt einen neuen Eindruck über das Haus, das zu seinem Zwangsasyl geworden war.
    »Kein übler Kerl«, erklärte der Arzt. »Er heißt Niebier.«
    »Auch ein Alkoholiker?« fragte Christian.
    »Was für ein hartes Wort, mein Lieber«, protestierte Dr. Jungmann. »Früher hatte Niebier, wenn er betrunken war, Hitler gespielt. Und das war er so oft«, der Arzt lächelte mit dünnen Lippen, »daß er später auch nüchtern diese Rolle übernahm.«
    Er legte den Arm um Christians Schulter und zog ihn in sein Zimmer. »Gar keine Entziehungserscheinungen?«
    »Was heißt das?« entgegnete Christian.
    »Haben Sie nicht das Bedürfnis, einen zu heben?«
    »Und ob«, antwortete der Patient. »Sie brauchen mir nur Schnaps zu geben.«
    Der Psychiater geleitete den Patienten in seine Krankenstube.
    Dr. Jungmann übersah mit einem raschen Blick, was sich Christian hatte besorgen lassen: Zeitungen, Bücher und Zeitschriften. Ob sein Patient ein Alkoholiker oder nur ein Trinker war, würde der Arzt in einigen Wochen wissen und seine Beobachtungen gewissenhaft beurteilen. Ihn konnten weder Polizeiakten beeindrucken, noch die Politik eines Großkonzerns.
    Siebenberge war ein Haus massierten Schicksals, gefüllt mit Insassen, die von Familienangehörigen hinter die hohen Mauern gebracht worden waren, wo für den Rest ihres Lebens eine unblutige Euthanasie an ihnen vollstreckt werden sollte. Es waren Einzelfälle, aber der Arzt wußte, daß es sie gäbe, und so war er vorsichtig, zumal bei vermögenden Patienten. Es gab auch Gegenbeispiele, bei denen die Angehörigen alles versuchten, dem Patienten die Freiheit
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