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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers
Autoren: Will Berthold
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schlug sie zurück, mit einer Stimme, die sie bei der letzten Begegnung mit Aglaia gelernt zu haben schien. »Komm«, sagte sie, »ich zeige dir auf der Schweineparty, was du versäumst!«
    Erik hielt nichts von Entschlüssen, die der Zorn soufflierte. Aber vielleicht hatte Jutta recht, und sie brauchten Ablenkung, nicht nur von Christians trüber Weihnachtszeit.
    Er bestellte ein Taxi, und sie fuhren als Zaungäste in das Haus eines Widerlings, wie sie ihn nie einladen würden.
    Eine Musik, die aus dutzenden von Lautsprechern durch die weiträumige Villa in München-Harlaching wimmerte, wies ihnen den Weg zur Orgie in allen Räumen eines verdunkelten Irrgartens.
    Der Gastgeber hatte sich etwas einfallen lassen. In der Diele stand ein Kiosk, mit pornographischen Fotos geschmückt. Eine frivole, kleine Filmschauspielerin, mehr horizontaler Leinwandstar, bot mehr nackt als angezogen Pillen aller Art an, von der stimulierenden Droge bis zum Rauschgift.
    Angetrunkene Gäste beiderlei Geschlechts nutzten diese pharmazeutischen Möglichkeiten. Erik beobachtete, wie einige dabei nach farblichen Effekten vorgingen, andere gezielter: sie putschten durch Pervitin ihr Temperament auf oder sie gingen auf einen LSD-Trip.
    »Nur keine Scheu«, wandte sich das Starlet an die Ankommenden. »Wer schluckt, hat mehr vom Leben. Bei mir können Sie Ihre Komplexe abgeben wie 'nen nassen Regenschirm.« Sie betrachtete Jutta abschätzend: »Nehmen Sie Librium, die Sonnenbrille der Seele. Oder Sie, mein Herr«, nickte sie Erik zu, »nehmen Sie Nirwana, und machen sie Casanova zu einem Stümper.« Sie nahm ein Päckchen, übergab es Jutta: »Hatten Sie überhaupt schon Ihre Antibabypille, schöne Dame?«
    Erik wollte gehen, doch Jutta hielt ihn fest.
    »Angst?« fragte sie.
    »Nein.«
    »Ich war auch noch nie auf einer Schweineparty«, versetzte sie. Sie liefen einem kleinen, sehr hageren Mann in den Weg:
    »Ich bin der Hausherr«, stellte er sich vor.
    »Der Mäuse-Flex?« fragte das Mädchen.
    Er wollte zornig werden und mußte lachen: »Ich hätte Sie gerne in meine Privatbar geladen«, erwiderte er, »aber nachdem Sie meine kleine Besonderheit kennen, bringen Sie mich ja um den Effekt.« Er lächelte Erik zu, betrachtete ihn prüfend und ging den beiden in eine überdimensionale Wohnhalle voraus.
    Auf der einen Seite stand ein langer Refektoriumstisch, aber die Mädchen und Männer, die an ihm saßen, waren keine Mönche oder Nonnen.
    Der Hausherr lud Jutta und Erik mit einer Geste ein, Platz zu nehmen. Zwar müßte er sich ein anderes Mäuse-Mädchen aussuchen als Jutta, aber er konnte diesen beiden Novizen seiner Schweineparty vielleicht doch noch etwas bieten.
    »Olga«, sagte er zu einer Rothaarigen. »Nimm dir doch mal den Professor vor.«
    Der Professor erhob sich beflissen, und Olga nahm seine Hand und zog ihn auf die Couch; während die anderen aßen, entkleideten sich die beiden.
    »Wie soll ich's denn machen?« fragte Olga den Gastgeber.
    Der Mäuse-Flex beugte sich vor, betrachtete Erik: »Spezialwünsche?« fragte er.
    »Danke«, antwortete Erik.
    »Dann spiel doch mal dein Repertoire durch«, forderte er Olga auf. »Wir sagen's dir schon, wenn's langweilig wird.«
    Während sich die beiden prostituierten, beachtete die Tafelrunde sie kaum, und Erik schien es, als wollten sie demonstrieren, daß sie jeden Abend Kaviar löffelten und Schweinepartys absolvierten.
    Christian hatte das Glück und den Fluch seines Lebens wiedergefunden: den Schnaps. Er saß in seinem Zimmer und trank, nicht so gierig wie sonst, denn zehn Flaschen – eigentlich nur noch neun – würden bald zu Ende gehen, und alle Tage war nicht Weihnacht.
    Unter ihm, eine Etage tiefer, in der Kantine, hielt der Direktor der Anstalt seine Ansprache, schöne Dinge mit einer noch schöneren Stimme umreißend. Er sprach von der Sehnsucht des Menschen nach Frieden, von dem Reichtum, den eine arme Krippe in Bethlehem der Menschheit beschert habe.
    Christian schien es, in seinem Zimmer habe sich der Duft des Tannenbaums gefangen, und er fragte sich, was er eigentlich gegen dieses Fest des deutschen Gemütes vorzubringen hätte.
    »O du fröhliche …«, sang das Pflegepersonal, »o du selige …« Die Klänge strichen durch das graue, große Haus. Der B-Trakt warf das Echo zurück. Nicht nur die Privatpatienten hoben den Kopf und horchten. Auch der liebe unbedarfte Pfleger Krautkopf – die anderen hatten ihm natürlich wieder den Dienst zugeschoben, während sie
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