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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers
Autoren: Will Berthold
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gerade ein Alkoholiker, aber ein Gewohnheitstrinker. Schnaps ist mein ständiger Begleiter. Seit ein paar Jahren. Ich bin nicht sein Sklave, aber er ist mein Erfüllungsgehilfe. Ich benutze ihn, um die harten Konturen zu schleifen, um das Bild der Wirklichkeit zu verwischen, bevor diese mich foltert.
    Wer trinkt, zerstört sein Leben; wer aber nicht trinkt, lebt nicht.
    Keineswegs möchte ich so kurz vor Toresschluß noch ein Plädoyer für die Trunksucht halten.
    Es soll auch keine Verteidigung des Selbstmordes werden. Als aufgeklärter Mensch lehne ich ihn natürlich in der Theorie ab, wenn ich auch seine Praxis exerzieren werde.
    Eigentlich komme ich dabei nur dem Lauf der Dinge zuvor. Wir sterben alle seit der Geburt. Wir proben es beim Einschlafen. Wir erfahren es mit jedem Zahn, der uns ausfällt. Wir sterben ein wenig, sowie wir ein Haar verlieren. Ob wir das Leben lieben oder hassen, ob wir uns mit ihm arrangieren oder uns von seiner Krankheit zu Tode foltern lassen:
    Wir sind alle zum Tod verurteilt.
    Der Selbstmord ist für die Gesellschaft ein Tabu und für die Kirche eine Sünde. Das Leben komme von Gott, lehrt sie. Wer es wegwerfe, lästere ihn. Ein großartiger Standpunkt, der mich überzeugen würde, hätte dieselbe Kirche nicht bei den meisten Gelegenheiten die Waffen gesegnet, mit denen menschliches Leben vernichtet wurde. Wer das Schwert erhebt, kommt durch das Schwert um, hatte Christus gelehrt; seine Erbfälscher nahmen das Schwert, weihten es und stießen es ihm durch das Herz.
    Alle hehren und profanen Institutionen sind sich in der Einhaltung des Tabus einig. Auch der Staat verurteilt moralisch den Selbstmord. Obwohl er ihn im Bedarfsfall ganzen Generationen pragmatisch als Übung à la Langenmarck auferlegt. Die Gesellschaft lehnt den Suizid ab, weil sie sich ungern an das Sterben erinnern läßt; und der von ihr geformte Mensch schiebt diesen Gedanken weit von sich, jederzeit bereit, zwecks Verschiebung des Ablebens sich ein neues Herz einsetzen zu lassen, auch wenn schließlich dadurch aus einer Leiche zwei würden.
    Es ist jetzt zwanzig Uhr.
    Zeit zu trinken, Zeit zu sterben. Bevor ich mit dem russischen Roulett beginne, in einer Spielart, die in jedem Fall letal sein wird, weil ich notfalls das ganze Magazin leeren werde, möchte ich mit dieser Aufzeichnung zu Ende kommen.
    Übrigens schreibe ich zum erstenmal seit vielen Jahren wieder. Damals hatte ich aufgehört, als ich merkte, daß mein Kopf schneller dachte, als meine Hand schreiben konnte. Zumindest hatte ich mir das eingeredet, aber dann erfuhr ich, daß Schreiben oder Nicht-Schreiben, vom Nutzen her betrachtet, gleichgültig ist, sofern es nicht darum geht, Honorare einzukassieren.
    Als ich das begriffen hatte, war ich ein Autor gewesen, der gelesen worden war; kein Romancier, ein Journalist. Während ich mich daran erinnere, falle ich automatisch in die handwerklichen Usancen dieses umstrittenen Berufes zurück: Ich bin fast 46, unverheiratet, Junggeselle von Natur, nicht durch Scheidung oder Witwerschaft.
    Außerdem: Kriegsteilnehmer, Wohlstandsbürger, Fleischesser, Gelegenheits-Christ und Linkshänder. Die Karteikarte des von mir gemiedenen und nunmehr auch überflüssigen Arzt-Freundes nennt mich zudem lebergeschädigt und infarktbedroht.
    Ich könnte diese Liste meiner Eigenschaften noch erweitern, aber ich habe keine Zeit mehr. Denn nun greife ich zum ersten Glas, und dieses Prost gilt einem Beruf, den ich verließ, als er mich verlassen hatte.
    Das Glas ist beschlagen vom Eis. Oder von der Angst? Sie sinkt zusammen wie eine Stichflamme. Ich halte das leere Glas in der Hand: Fehlanzeige. Es wäre auch eine mathematische Ungerechtigkeit gewesen, hätte mich sofort der Tropfen Gift ereilt.
    Ich will zum Schluß kommen, aber so wiederum eilt es auch nicht, und eine halbe Stunde Leben sind doch noch sieben oder acht Doppelte, großzügig gemessen.
    Sie werden den Blick schärfen und einen barmherzigen Schleier über den Verstand legen. Einem Jünger der Flasche geht es nach den ersten Schlucken wie einem Vampir, der Blut gesaugt hat. Die Speicheldrüsen arbeiten schneller; sonst kontrollierte Nerven werden vegetativ, und das Herz hämmert schnell wider die Rippen.
    Ich zelebriere mein Ende eigentlich ganz vulgär. Kein Kerzenlicht. Keinerlei makabre Feierlichkeit. Ich habe mich mit meiner Tat abgefunden, die Angst ertränkt, das Bewußtsein wattiert.
    An die Einsamkeit bin ich längst gewöhnt.
    Ich kenne ihre Spielarten, ihre
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