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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers
Autoren: Will Berthold
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begeistert, »alles schläft, einsam wacht …«
    Der Lärm kam von unten. Die Unruhe aber breitete sich auf Christians großflächig bemessener Krankenstube aus. Die Gefährten, die nicht schlafen konnten, seit Jahren eingesperrt, um das Elixier ihres Lebens gebracht, ahnten, spürten und rochen, daß mitten in der Abteilung der lebenslänglichen Alkoholiker eine Revolution begonnen hatte, die aus der Flasche kam.
    Sie pirschten über den Gang und horchten.
    »Ihr Kinderlein kommet«, tönte es aus der Kantine, »so kommet doch all …«
    Sie rissen Christians Zimmertür auf, drei, vier, fünf. Nach seinem ersten Ärger wußte er, daß er mit ihnen teilen müßte. Schließlich freute er sich, ihnen ein fürstliches Weihnachtsgeschenk machen zu können.
    Er legte den Finger an den Mund.
    Sie saßen im Halbkreis und tranken stumm.
    Erich Strehl, Wirtschaftsprüfer a.D. hatte, als sie wieder eine Flasche entkorkten, durch telefonische Orders an seine Privatbank bereits zwei Millionen verdient, und bei der sechsten Flasche waren sie schon so hinüber, daß selbst die wenigen Betrunkenen nicht merkten, wie laut sie wurden.
    Als letzter Gast schob sich Niebier in den Raum. Er riß Christian die Flasche aus der Hand, vergessend, daß der Führer nie getrunken hatte.
    Mehringer erhob sich, vierschrötig, dunkelhaarig. Er nahm einen Kamm aus der Tasche, brach ihn zurecht, bis er aussah wie ein hängender Schnurrbart.
    Der Braunauer und der Kaukasier musterten sich scharf; es wurde still im Raum.
    »Ich bin der ältere«, sagte der rote Zar, »ich darf dir endlich das ›Du‹ anbieten.«
    »Heil Generalissimus«, antwortete der Führer. »Schließlich sind wir Kollegen, die Geschichte machen.«
    Spätestens jetzt begriff Christian, daß er in einem Irrenhaus war, und als wollten sie dieser Erkenntnis nachhelfen, grölten die betrunkenen Pfleger, Ärzte und Sekretärinnen gemeinsam: »O du schöner Westerwald …«
    »Komplimente«, sagte der Braunauer. »Das in Prag hätten meine Soldaten nicht besser machen können. Großartig! Phantastisch!« Sich vergessend, nahm er wieder einen Schluck aus der Flasche. »Es zittern die morschen Knochen!« setzte er hinzu.
    »Biafra«, lobte der Kaukasier. »Deine Erfindung. Sie brauchen zum Ausrotten kein Zyklon B mehr: sie schaffen es mit nacktem Hunger.«
    »Deine Verbündeten«, konterte der Rivale, »die Franzosen, die Engländer …«
    »Scheißbande«, antwortete der Generalissimus, »aber in deinem Land geht's auch wieder aufwärts, was?«
    »Na ja, die Opposition ist abgeschafft«, räumte der Führer ein, »mein alter Trick.«
    »Aber die Justiz ist lax«, versetzte der Kaukasier. »Sie läßt sich von Volksschädlingen vor die Füße scheißen und mit ihren Akten den Arsch abputzen.«
    »Freisler ist tot«, bedauerte der Braunauer, »aber seine rechte Hand wurde gerade freigesprochen, und bald kommt wieder die Schutzhaft.«
    Christian glaubte zu spüren, daß seine Tränensäcke platzten und ihm der Schmutzfilm seines Lebens über die Pupillen lief. Er wischte sich die Augen aus. Dann verfolgte er, daß die Zuhörer schon wieder stramm wurden und andere zu Opportunisten: Angst hatten sie alle. Nicht einmal diese Menschen mit der weißen Klarheit des Schnapses hatten etwas dazugelernt.
    »Und der Papst hat die Pille verboten«, kicherte der Generalissimus. »Das gibt Menschen.«
    »Kanonenfutter«, schrie der Oberste Feldherr.
    »Mehr Hunger!« schrie der Kaukasier: »Bevölkerungsexplosion schafft Revolution.«
    »Der Heilige Vater«, lächelte der Führer versonnen, »hab' mich schon einmal mit einem Kollegen von ihm sehr gut vertragen.«
    »Mit den Juden hast du ganz schön aufgeräumt«, lobte der Kaukasier.
    »Und diesmal sind die Nigger dran«, der Führer lächelte wissend. »Sie kommen alle in die Grube von Katyn.«
    »Oder nach Auschwitz.«
    »Gehupft wie gesprungen«, meinte der Braunauer.
    Christian hielt sich die Ohren zu. Er mußte den Blick von ihnen wenden und die Flaschen anstarren und verfiel in die Halluzination seines Lebens, nur daß ihn keine weißen Mäuse umschwirrten, sondern braune, schwarze und rote Ratten bedrängten.
    Auf einmal begannen die Flaschen zu tanzen, wie damals in Saigon, Flaschen, die wackelten und nie umfielen, niemals ausliefen und sich wie von selbst nachfüllten.
    Plötzlich waren die Flaschen weg, und Laura lächelte ihn wieder an: er würde sie nie vergessen, sosehr er auch von einem Schauplatz zum anderen hetzte. Seinem Glück
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