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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose
Autoren: Jennifer Donnelly
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   Prolog   
    August 1913 – Tibet
    V erhielten sich alle englischen Frauen wie Männer beim Sex?  Oder bloß diese hier?
    Das fragte sich Max von Brandt, ein deutscher Bergsteiger, als er der jungen Frau, die neben ihm im Dunkeln lag, das Haar aus dem Gesicht strich. Er war mit vielen Frauen zusammen gewesen. Mit sanften, anschmiegsamen Frauen, die sich hinterher an ihn klammerten und ihm Schwüre und Zärtlichkeiten abrangen. Diese Frau war nicht sanft und genauso wenig ihr Sex. Er war hart, schnell und ohne Vorspiel. Und wenn es vorbei war wie jetzt, rollte sie sich auf die Seite und schlief ein.
    »Ich schätze, es gibt nichts, was dich bewegen könnte, bei mir zu bleiben, oder?«, fragte er.
    »Nein, Max, nichts.«
    Er lag auf dem Rücken im Dunkeln und hörte zu, wie ihr Atem gleichmäßiger wurde, während sie einschlief. Er selbst konnte nicht schlafen. Wollte es nicht. Er wollte, dass diese Nacht niemals zu Ende ging. Um sie nie zu vergessen. Er wollte sich erinnern, wie sie sich anfühlte, wie sie roch. An das Geräusch des Windes. Die beißende Kälte.
    Er hatte ihr gesagt, dass er sie liebte. Vor Wochen. Und es ernst gemeint. Zum ersten Mal in seinem Leben war er aufrichtig gewesen. Aber sie hatte nur gelacht. Und dann, als sie bemerkte, wie verletzt er war, den Kopf geschüttelt.
    Die Nacht verging schnell. Noch vor Sonnenaufgang erhob sich die Frau. Während Max in die Dunkelheit starrte, zog sie sich an und verließ leise das gemeinsame Zelt.
    Er fand sie nie neben sich, wenn er aufwachte. Immer verließ sie noch bei Dunkelheit das Zelt, die Höhle oder irgendeinen Unterschlupf, den sie gefunden hatten. Anfangs hatte er sie gesucht und sie immer irgendwo hoch oben gefunden, an einem einsamen, stillen Ort, wo sie dasaß, das Gesicht in den frühen Morgenhimmel mit den verblassenden Sternen erhoben.
    »Wonach suchst du?«, fragte er stets und folgte ihrem Blick.
    »Nach dem Orion«, antwortete sie.
    In nur ein paar Stunden würde er ihr Lebewohl sagen. In der verbleibenden Zeit würde er an ihre ersten gemeinsamen Tage denken, denn an diese Erinnerungen würde er sich klammern.
    Sie hatten sich vor ein paar Monaten kennengelernt. Er wollte unbedingt den Himalaja sehen und herausfinden, ob es möglich sei, den Everest zu bezwingen. Um den höchsten Berg der Welt für Deutschland, sein Vaterland, zu erobern. Der Kaiser wünschte Eroberungen, und er stellte ihn lieber mit einem herrlichen Berg zufrieden als mit der Teilnahme an einem erbärmlichen Krieg in Europa. Von Berlin aus war er nach Indien aufgebrochen, hatte das Land in nördlicher Richtung durchquert und dann heimlich Nepal betreten, ein Land, das westlichen Ausländern verboten war.
    Bis nach Kathmandu war er gekommen, als er von Vertretern der nepalesischen Obrigkeit festgenommen und zum Verlassen des Landes aufgefordert wurde. Das versprach er, aber er brauche Hilfe, sagte er. Einen Führer. Er brauche jemanden, der ihn durch die Hochtäler des Solu Khumbu und über den Nangpa-La-Pass nach Tibet führe. Von dort wolle er nach Osten ziehen und den Fuß des Everest erkunden auf dem Weg nach Lhasa, der Stadt Gottes, wo er hoffe, vom Dalai Lama die Erlaubnis zur Besteigung zu bekommen. Er habe von einem Ort namens Rongbuk gehört und von jemandem, der ihm vielleicht helfen könne – von einer Frau, ebenfalls eine Ausländerin aus dem Westen. Ob sie etwas von ihr wüssten?
    Die Vertreter der Obrigkeit sagten, sie sei ihnen bekannt, obwohl sie die Frau seit einigen Monaten nicht mehr gesehen hätten. Er gab ihnen Geschenke: Rubine und Saphire, Perlen und einen großen Smaragd, den er in Jaipur gekauft hatte. Als Gegenleistung erhielt er die Erlaubnis, auf die Frau zu warten. Einen Monat lang.
    Max hatte von der Frau zum ersten Mal nach seinem Eintreffen in Bombay gehört. Westliche Bergsteiger, die er dort kennenlernte, erzählten ihm von einer jungen Engländerin, die im Schatten des Himalaja lebte. Sie hatte den Kilimandscharo bestiegen – den Mawenzi-Gipfel – und dort bei einem schrecklichen Unfall ein Bein verloren. Jetzt, sagten sie, fotografiere sie und zeichne Karten des Himalaja. Sie steige so hoch hinauf, wie sie könne, aber schwierige Kletterpartien seien ihr verwehrt. Sie lebe jetzt unter den Bergbewohnern. Sie sei genauso stark wie die Einheimischen und habe deren Respekt und Zuneigung gewonnen. Sie mache, was eigentlich kein Europäer tun könne – überschreite problemlos Grenzen und erfahre Gastfreundschaft von Nepalesen
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