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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose
Autoren: Jennifer Donnelly
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von ihrem Zuhause entfernt, wenn ich nicht schuld daran wäre. Wenn ich mich damals am Kilimandscharo richtig verhalten hätte, wäre sie jetzt hier.«
    Er würde nie vergessen, was damals in Afrika geschehen war. Sie hatten gemeinsam den Kilimandscharo bestiegen, in der Hoffnung, mit der Besteigung des Mawenzi-Gipfels einen Rekord aufzustellen. Sie hatten beide unter Höhenkrankheit gelitten, Willa ganz besonders. Er wollte, dass sie umkehrte, aber sie weigerte sich. Also gingen sie weiter und erreichten den Gipfel viel später, als ratsam war. Dort auf dem Mawenzi gestand er ihr etwas, was er schon seit Jahren fühlte, aber immer für sich behalten hatte – dass er sie liebte. »Ich liebe dich auch«, erwiderte sie. »Schon immer. Und für immer.« Diese Worte hallten in ihm nach. Jeden Tag seines Lebens. In seinem Kopf und seinem Herzen.
    Die Sonne stand schon hoch, als sie den Abstieg begannen, zu hoch, und ihre Strahlen brannten auf sie herab. Ein Felsblock, der vom Eis an seinem Platz gehalten wurde, löste sich in der Hitze und donnerte auf sie hinab, als sie durch eine Schlucht abstiegen. Er traf Willa, und sie stürzte ab. Nie würde Seamie den Widerhall ihrer Schreie vergessen, genauso wenig wie das verschwommene Bild ihres verdrehten Körpers, als er an ihm vorbei nach unten gerissen wurde.
    Als er sie schließlich fand, sah er, dass ihr rechtes Bein gebrochen war und zersplitterte Knochen die Haut durchstoßen hatten. Er stieg zu ihrem Basislager ab, um Hilfe von den Massai-Führern zu holen, musste jedoch feststellen, dass sie von feindlichen Stammesangehörigen ermordet worden waren. Also musste er sie allein den Berg hinunter-, durch den Dschungel und die Ebene tragen. Tage später war er auf Zuggleise gestoßen, die zwischen Mombasa und Nairobi verliefen. Nachdem er einen Zug angehalten hatte, schaffte er es, Willa zu einem Arzt nach Nairobi zu bringen, doch als sie dort ankamen, war die Wunde brandig geworden. Es gebe keine Wahl, sagte der Arzt. Man müsse amputieren. Willa flehte ihn an, den Arzt davon zu überzeugen, dass sie ihr Bein behalten müsse. Sonst könne sie nicht mehr klettern. Aber Seamie hatte nicht auf ihr Flehen gehört. Er ließ den Arzt amputieren, um ihr Leben zu retten, und das hatte sie ihm nie verziehen. Sobald sie in der Lage dazu war, verließ sie das Krankenhaus. Und ihn.
    Jeden Morgen wache ich verzweifelt auf und jeden Abend schlafe ich genauso verzweifelt ein, hatte sie in der Nachricht geschrieben, die sie für ihn zurückließ. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wo ich hingehen, wie ich leben soll. Ich weiß nicht, wie ich die nächsten zehn Minuten überstehen soll, ganz zu schweigen vom Rest meines Lebens. Für mich gibt es keine Hügel mehr, die ich besteigen kann, keine Berge, keine Träume mehr. Es wäre besser gewesen, auf dem Kilimandscharo zu sterben, als so weiterzuleben.
    Eddie griff nach seiner Hand und drückte sie. »Hör auf, dir die Schuld dafür zu geben, Seamie, du bist nicht schuld daran«, sagte sie entschieden. »Du hast alles Menschenmögliche getan und das einzig Richtige. Stell dir vor, du hättest meiner Schwester sagen müssen, du hättest nichts getan, du hättest ihr Kind sterben lassen. Ich verstehe dich, Seamie. Wir alle verstehen dich.«
    Seamie lächelte traurig. »Aber das ist ja gerade das Schlimme dabei«, erwiderte er. »Alle verstehen es. Alle außer Willa.«

   2   
    E ntschuldigen Sie, Mr Bristow«, sagte Gertrude Mellors und  steckte den Kopf durch die Tür ihres Vorgesetzten, »aber Mr Churchill ist am Telefon, und die Times möchte einen Kommentar zum Bericht des Handelsministers über Kinderarbeit in Ostlondon, und Mr Asquith bittet Sie, ihn heute zum Abendessen in den Reform Club zu begleiten. Punkt acht.«
    Joe Bristow, Parlamentsabgeordneter für Hackney, hielt mit dem Schreiben inne. »Sagen Sie Winston, wenn er mehr Schiffe will, soll er sie selbst bezahlen. Die Leute in Ostlondon brauchen Kanalisationen und keine Schlachtschiffe. Der Times sagen Sie, dass die Londoner Kinder ihre Tage in der Schule und nicht in ausbeuterischen Betrieben verbringen sollen und dass es die moralische Pflicht des Parlaments ist, schnell und entschieden auf den Bericht zu reagieren. Und dem Premierminister richten Sie aus, er soll mir Perlhuhn bestellen. Danke, Trudy, meine Liebe.«
    Er wandte sich wieder dem älteren Mann zu, der ihm gegenüber am Schreibtisch saß. Nichts, weder Zeitungen noch Einladungen, nicht einmal der
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