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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose
Autoren: Jennifer Donnelly
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anziehen kann«, erwiderte Seamie nur.
    Eddie kam der Bitte nach, Seamie stand auf und sammelte seine Kleider vom Boden auf. Er war groß, kräftig und gut gebaut. Seine Muskeln spannten sich unter der Haut, als er seine Hose anzog und sein Hemd überstreifte. Sein Haar, an den Seiten kurz geschnitten, oben lang und wellig, war kastanienbraun mit Reflexen. Sein Gesicht war von Sonne und Meer wettergegerbt. Seine Augen waren von einem verblüffenden Blau.
    Im Alter von einunddreißig Jahren gehörte er weltweit zu den anerkanntesten Polarforschern. Schon als Teenager hatte er gemeinsam mit Ernest Shackleton einen Versuch zur Entdeckung des Südpols unternommen. Und vor zwei Jahren war er von der ersten erfolgreichen Expedition zum Südpol zurückgekehrt, die von dem Norweger Roald Amundsen geleitet worden war. Kurz nach seiner Rückkehr hatte er sich auf eine Vortragstour begeben und war fast zwei Jahre lang ununterbrochen durch die Welt gereist. Seit einem Monat war er wieder in London, aber die Stadt mitsamt ihren Bewohnern kam ihm schon jetzt grau und langweilig vor. Er fühlte sich ruhelos und eingesperrt und konnte es gar nicht erwarten, zu neuen Abenteuern aufzubrechen.
    »Wie lange bist du schon in der Stadt? Wie gefällt es dir? Bleibst du diesmal ein bisschen länger?«, fragte Eddie.
    Seamie lachte. So redete Eddie immer – sie stellte eine Frage, und bevor man sie beantworten konnte, folgten zehn weitere.
    »Ich weiß nicht«, antwortete er und kämmte sich das Haar vor dem Spiegel über dem Sekretär. »Könnte sein, dass ich bald wieder fort bin.«
    »Wieder eine Vortragsreise?«
    »Nein. Eine Expedition.«
    »Wirklich? Wie aufregend! Wohin?«
    »Zurück in die Antarktis. Shackleton versucht, was auf die Beine zu stellen. Ihm ist es ziemlich ernst damit. Letztes Jahr hat er es in der Times angekündigt und inzwischen schon einen recht detaillierten Zeitplan aufgestellt. Jetzt muss er bloß noch das Geld dafür auftreiben.«
    »Und was ist mit den ganzen Kriegsgerüchten? Bereitet ihm das keine Sorgen?«, fragte Eddie. »Die Leute auf dem Schiff redeten von nichts anderem. In Aleppo genauso.«
    »Das schert ihn kein bisschen. Er schenkt der Sache keinen großen Glauben. Seiner Meinung nach verzieht sich das Gewitter bald wieder, und er will Ende Sommer lossegeln, wenn nicht schon früher.«
    Eddie sah ihn lange an. »Wirst du allmählich nicht ein bisschen zu alt für dieses Draufgängerleben? Solltest du nicht sesshaft werden? Eine nette Frau finden?«
    »Wie denn? Du verjagst sie doch alle?«, erwiderte Seamie neckend. Er setzte sich wieder aufs Bett und zog seine Socken an.
    Eddie schlug mit der Hand nach ihm. »Komm runter, wenn du fertig angezogen bist. Ich mache Frühstück für uns alle. Eier mit Harissa-Soße. Ich hab ganze Töpfe von dem Zeug mitgebracht. Warte, bis du sie probiert hast. Einfach göttlich! Dann erzähle ich dir und Albie und seinen gelehrten Freunden von meinen Abenteuern. Und dann fahren wir nach London.«
    »Nach London? Wann? Gleich nach dem Frühstück?«
    »Na ja, vielleicht nicht direkt danach«, räumte Eddie ein. »Vielleicht in ein oder zwei Tagen. In meinem Stadthaus wohnt der faszinierendste Mann, den ich kenne, und ich will ihn dir unbedingt vorstellen. Mr Thomas Lawrence. Ich habe dir doch vorhin von ihm erzählt, bevor deine Mätresse meine Tür fast aus den Angeln gerissen hat. Ich habe ihn in Aleppo kennengelernt. Er ist ebenfalls Forschungsreisender. Und Archäologe. Er hat die ganze Wüste durchquert, kennt alle einflussreichen Leute dort und spricht fließend Arabisch.« Plötzlich hielt Eddie inne und senkte die Stimme. »Manche Leute behaupten, er sei ein Spion .« Das letzte Wort sagte Eddie im Flüsterton, dann sprach sie mit ihrer üblichen dröhnenden Stimme weiter. »Aber egal, was er sein mag, er ist jedenfalls absolut umwerfend.«
    Eddies Bericht wurde plötzlich von einem Donnerschlag unterbrochen, dann prasselte Regen gegen die hohen Fenster, von denen eines eine kaputte Scheibe hatte.
    »Oje, da kommt Wasser rein«, stellte sie fest. »Ich muss den Glaser anrufen.« Für einen Moment starrte sie in den Regen hinaus. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das englische Wetter vermissen würde«, fügte sie wehmütig lächelnd hinzu. »Aber das war, bevor ich die arabische Wüste gesehen hatte. Es ist schön, wieder zurück zu sein. Ich mag mein knarrendes altes Haus wirklich gern. Und das knarrende alte Cambridge.« Ihr Lächeln verblasste. »Obwohl ich
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