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Segel aus Stein

Segel aus Stein

Titel: Segel aus Stein
Autoren: Ake Edwardson
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    Ebbe hatte die Schiffe im Hafenbecken trockengelegt. Sie lagen wie verdreht da, die Buge zeigten auf die Treppenstufen in der Kaimauer.
    Zeigten auf ihn.
    Er sah die Schiffsrümpfe in der Dämmerung leuchten. Die Sonne duckte sich hinter die Landzunge im Westen. Möwen schrien unter einem niedrigen Himmel, das Licht verdichtete sich zu Dunkelheit. Die Vögel wurden vom Himmel, der wie ein Segel über den Horizont gespannt war, aufs Wasser niedergedrückt.
    Alles wurde aufs Meer niedergedrückt. Wurde aufs Meer gedrückt, unter die Oberfläche gedrückt, Druck... Jesus, dachte er.
    Jesus save my soul! Jesus save MYSOUL!
    ... So wüst und schön sah ich noch keinen Tag!
    Er hörte Geräusche hinter sich, Schritte über Pflastersteine auf dem Weg zur Kirche, die auch wie aus Stein gehauen zu sein schien, mit einem Vorschlaghammer aus Stein gehauen, wie alles andere unter dem Segel dieses Himmels. Er schaute wieder auf. Der Himmel hatte die Farbe von Stein angenommen wie alles, was ihn umgab. Ein Segel aus Stein. Alles war aus Stein. Das Meer war aus Stein.
    'nes Seemanns Daumen hab ich da, Schiffbruch litt er der Heimat nah!
    Hinter ihm hallten Schritte von Menschen, auf dem Weg zu einem Moment des Friedens in der Methodistenkirche. Er drehte sich nicht um. Er wusste, dass sie ihn ansahen, er spürte ihre Blicke im Nacken. Sie taten nicht weh, solche Blicke waren das nicht. Er wusste, dass er sich auf die Menschen hier verlassen konnte. Sie waren nicht seine Freunde, aber sie waren auch nicht seine Feinde. Er durfte sich in ihrer Welt bewegen, und das hatte er lange getan, tatsächlich so lange, dass er MEHR geworden war als sie ... Er war ein Teil der Steine, der Felsen, Mauern, Treppenstufen, Häuser, Wellenbrecher, des Himmels, des Meeres, der Wege, der Schiffe, der Trawler geworden.
    Die hier lagen.
    Die hier unter den Wellen begraben lagen, die sich in den rollenden Steinbrüchen zwischen den Kontinenten bewegten.
    Jesus, Jesus!
    Er drehte sich um. Die Schritte waren verstummt, von der Kirche verschluckt, deren Tür jetzt geschlossen war. Hier unten gingen die wenigen Straßenlaternen an, wodurch die Dunkelheit vor der Zeit fühlbarer wurde. Das dachte er, während er sich in Bewegung setzte. Eine Dunkelheit vor der Zeit. Jeden späten Nachmittag. Vor der Zeit ... und nach der Zeit. Ich lebe dieses Leben nach der Zeit. Eine lange Zeit danach. Ich lebe. Ich bin ein anderer, ein neuer. Das andere Leben war nur geliehen, eine Rolle, eine Maske. Man überschreitet eine Grenze, wird ein anderer und lässt sein altes Ich zurück.
    Bei den Treppen zur Straße hingen Kinderkleider zum Trocknen auf dem Hof. Die kleinen Ärmel winkten ihm zu.
    Er stand auf der Straße. Über ihm türmten sich die Viadukte wie Eisenbahnschienen, die in den Himmel gebaut worden waren. Da ist die Straßenbahn, die in den Himmel fährt, Jesus lenkt und Gott ist Schaffner. Aber hier hatte es noch nie Straßenbahnen gegeben. Er war Straßenbahn gefahren, jedoch nicht hier. Das war in einem anderen Leben gewesen, das weit zurücklag. Weit zurück. Vor der Vorzeit, bevor er die Grenze überschritt.
    In diesem Teil der Stadt zerschnitten die Viadukte den Himmel. Züge waren sie hinaufgedonnert, aber das war lange her. 1969 war der letzte Zug gefahren. Vielleicht hatte er ihn gesehen.
    1888 wurde der steinerne Weg in den Himmel gebaut. Hatte er das auch gesehen? Vielleicht. Vielleicht war er ein Teil des Steins vom Viadukt.
    Und nichts ist, als was nicht ist.
    Sie haben ihn hierher geholt, und hier ist er geblieben. Nein.
    Geblieben ist er wohl, aber nicht aus diesem Grund.
    Er überquerte die Straße, bog in die North Castle Street ein und betrat den Pub an der Kreuzung. Drinnen war niemand. Er wartete, und eine Frau, die er vorher nur wenige Male gesehen hatte, kam aus dem Hinterzimmer an die Bar. Er nickte zu den Hähnen auf der Theke vor ihr.
    »Fullers, oder?« Sie nahm ein Pintglas von dem Stapel abgewaschener Gläser neben der Kasse. Offenbar hatte sie es noch nicht geschafft, die Gläser ins Regal zurückzustellen.
    Er nickte wieder. Sie füllte das Glas und stellte es vor ihn hin. Er sah, wie sich der trübe Glasinhalt langsam klärte, wie der Himmel nach einem Unwetter oder der Meeresgrund nach einem Sturm.
    Er bestellte einen Whisky und zeigte auf eine der billigeren Marken hinter ihr. Sie stellte das Whiskyglas vor ihn hin. Er trank und schüttelte sich.
    »Das wird bestimmt ein kalter Abend«, sagte sie.
    »Mhm.«
    »Da braucht man was
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