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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers
Autoren: Will Berthold
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Beschluß in eine geschlossene Anstalt eingewiesen.« Jutta zündete sich eine Zigarette an; sie wußte, daß er Rauch in seinem Amtsraum für ein Sakrileg hielt.
    Dr. Müllner musterte seine Tochter durch den Rauchschleier: Gesicht ohne Gefühl, ein junger Mund, umspielt von einem unguten Lächeln. »Und du willst ihn sprechen?« fragte er.
    »Ich muß es«, entgegnete sie. »Du kannst mir die Erlaubnis verschaffen.«
    »Ich könnte es vielleicht …«, erwiderte der Richter.
    Unfähig, ihren Blick länger zu ertragen, stand er auf und ging mit am Rücken verschränkten Armen hin und her: »Aber warum sollte ich es?«
    »Mir zuliebe«, antwortete die Dreiundzwanzigjährige ohne Versuch, den zynischen Klang ihrer Worte zu mildern.
    »Ich denke nicht daran.«
    »Dann dir zuliebe«, versetzte Jutta.
    Ihr Blick war hart. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck schlüssigen Trotzes.
    Dr. Müllner konnte ihn sofort deuten. Es war unklug gewesen, einige Sondergerichtsakten aufzubewahren. Seiner Art entsprechend hatte er gründlich erforscht, ob es aus Eitelkeit geschehen wäre. Er wußte, daß er sich in diesem Punkt freisprechen durfte. Nach 1945, voreilig und kurzfristig untergetaucht, hatte er im Fluchtgepäck Dossiers verwahrt, die auch Aufschlüsse über die Schuld seiner Kollegen gaben: schließlich war er nur Beisitzer gewesen bei diesen lächerlichen hundert oder hundertfünfzig Todesurteilen.
    Als seine Tochter auf diese Relikte einer bewältigten Vergangenheit gestoßen war, hatte er sich einen Pessimisten schelten müssen. Aber schließlich war nicht ein einziger Richter in der Bundesrepublik wegen seiner Bluturteile aus der braunen Zeit verurteilt worden; dabei waren unter den Lieferanten des Fallbeils ganz andere Kaliber gewesen als der jungehrgeizige Dr. Müllner, dem noch dazu der Eifer die Muskete erspart hatte.
    »Entscheide dich bitte rasch«, sagt Jutta. »Ich bin in Eile.«
    Der Richter blieb mit einem Ruck stehen.
    »Erpressung?« fragte er.
    »Aus Überzeugung«, versetzte sie.
    »Soll ich dich verhaften lassen?«
    »Das«, erwiderte Jutta, »würdest du nicht wagen.«
    Dr. Müllner nahm seine Wanderung wieder auf. Früher hatte er versäumt, seine Tochter zu schlagen – seine Schläge waren subtilerer Art gewesen –, jetzt wäre sie zu alt dafür und auch der Ort zu unglücklich.
    »Was soll das heißen?« fragte der Landgerichtsdirektor.
    »Entweder du verschaffst mir Zutritt zur Heil- und Pflegeanstalt Siebenberge oder ich übergebe die Produkte deines Fleißes – diese Sondergerichtsakten – dem soeben von dir verurteilten Studenten Gerd Wagenseil, meinem Kommilitonen.«
    »Weißt du, daß du unanständig bist?« fragte der Richter erregt.
    »Ehre, wem Ehre gebührt.«
    Dr. Müllner war fest entschlossen, ganz ruhig zu bleiben.
    »Und wenn ich dir behilflich wäre?«
    »In einem solchen Fall würde ich – gegen meine Überzeugung übrigens – deine Rechtsbeugungen von früher vergessen.«
    »Und wenn du nicht Wort hältst?«
    »Dann hättest du Pech gehabt«, antwortete Jutta und stand auf. »Es bleibt dir nur die Hoffnung auf das Gute im Menschen«, setzte sie hinzu und ging zur Tür.
    »Ruf mich morgen an«, entgegnete ihr Vater. »Gegen zehn Uhr.«
    Er sah Jutta nach; dann griff er zum Strafgesetzbuch und schlug es auf: Paragraph 253. Erpressung.
    Der Landgerichtsdirektor wußte, daß dieses Delikt mit Zuchthaus oder Gefängnis nicht unter sechs Monaten zu ahnden sei. Aber gewohnheitsmäßig versicherte er sich, wie immer vor der Urteilsfindung, seines Wissens, wenngleich es in diesem Fall eine theoretische Übung bleiben mußte.
    Es war Weihnachtszeit, und für diese schien Christian das Irrenhaus ein angemessener Ort zu sein, frei vom Gebimmel der Warenhauskassen, von mißbrauchten Chorälen und vom strapazierten Schenkungswahn: »Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind.«
    Wer war das schon?
    Er erhielt ein schönes, freundliches Zimmer. Er wurde von vornherein mehr als Gast denn als Gefangener behandelt. Er hatte Geld und war damit sogar hinter Gitterstäben noch ein Privatpatient, und somit lebten die Ärzte mit ihm, täglich ein paar Minuten wenigstens, wie auf gleichem Fuß, und behandelten ihn nicht wie einen Kretin, der sich um seinen Verstand gesoffen hatte.
    Man stellte ihm Radio und Fernsehen in das Zimmer, versicherte ihm, daß er bald, wenn auch unter Aufsicht der Anstalt, Besucher empfangen dürfte.
    Aber wer sollte ihn schon besuchen?
    Und auf wessen
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