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Auf dem Maniototo - Roman

Auf dem Maniototo - Roman

Titel: Auf dem Maniototo - Roman
Autoren: C.H.Beck
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«normale» Menschen nicht besäßen. Und doch hatte er schon zehn Jahre vor seinem Tod den ersten Schlaganfall, und während der letzten zehn Jahre unserer Ehe war er plötzlich nur noch ein alter Mann im Schlafrock, der im Haus herumschlich und versuchte, die Hand unter den Rock der kleinen Edith zu schieben, ja sogar seinen Sohn zu verführen. Die Kinder schämten sich seiner, bemitleideten ihn und hassten ihn. In diesen letzten Jahren beschäftigte er sich mit seinem Amateurfunkgerät. Er hatte sein eigenes Funkrufzeichen. Er sprach mit Nord- und Südamerika. Kurz vor seinem Tod kamen ihm die Gerüchte zu Ohren, die später zu offiziellen Nachrichten wurden, als Blenheim zur Partner- oder Schwesterstadt von Berkeley in Kalifornien erklärt wurde. Ich war mir nie ganz sicher, was für Obszönitäten er über Funk verbreitete, denn der Schlaganfall hatte ihm zwar die Kontrolle über seine Gliedmaßen belassen, ihm aber sein Urteilsvermögen genommen, die Zunge und das Benennen von Dingen schwer gemacht, mit dem Ergebnis, dass er statt Hauptwörtern Definitionen verwendete. An dem Abend, als Blenheim zur Partnerstadt von Berkeley ausgerufen wurde (die Nachricht wurde von den Bewohnern mit ungeheurer Begeisterungaufgenommen, so als hätte man Gold gefunden; aber auch mit einiger Besorgnis, wie eine mögliche Kriegserklärung), kam Lewis aus seinem Zimmer gelaufen (seit er Invalide war, hatten wir getrennte Schlafzimmer) und rief: noch eine Stadt, noch eine Stadt, noch ein Blenheim. Ich weiß noch, seine Augen waren voll Gier. Noch ein Blenheim. Meinte er die Schlacht, den «ruhmreichen Sieg»? Noch ein Berkeley.
    All die wunderbaren Wörter, die die Menschen besitzen, aber selten verwenden, die breite, prächtige Sprachtapisserie, die die ganze Erde bedecken könnte wie ein Festtagstischtuch oder eine goldene Decke – sie waren verloren. Lewis war von einem Blitz getroffen worden, der große Löcher in seine Sprache gebrannt und den Rest so stark versengt hatte, dass das Muster unverständlich geworden war; die Sprache nährte und wärmte ihn nicht mehr.
    «Noch ein Berkeley? Noch ein Blenheim?» (Dabei musste ich an das Gedicht denken, das ich in der Schule gelernt hatte:
    «Das Goldene Zeitalter beginnt aufs Neue …
    Ein zweites Athen wird sich erheben …»)
    Was Berkeley betraf, so kannte ich es nur als die Stadt, die die Kalifornier nicht richtig aussprachen!
    Lewis versuchte verzweifelt, mir seine Neuigkeit mitzuteilen.
    «Edith, zwei Ediths.»
    «Du meinst Schwestern?»
    Er nickte.
    «Ach», sagte ich, «Schwesterstädte?»
    Er nickte wieder. Warum er sich wohl so darüber freute, fragte ich mich. Für uns spielte es doch kaum eine Rolle?
    Aber irgendwie wurde die Städtepartnerschaft zwischenBerkeley und Blenheim zum Höhepunkt seiner letzten Lebenstage und zu seinem einzigen Gesprächsthema. Er müsse Striche und Karten machen, sagte er. «Pläne?» Ich fütterte ihn mit dem Wort, so wie ich ihn mit der Suppe fütterte, sachlich, aber sanft.
    Kurze Zeit danach, etwa drei Monate später, starb er und hinterließ mir einen Teil seines Rohrlegekontos, was mir ermöglichte zu reisen. Doch vorher schrieb ich noch in kürzester Zeit mein erstes Buch,
Die grüne Zündschnur,
so als hätte ich schon mehrere Jahre lang darauf gewartet, es wie einen Sack Weizen auszuleeren; darin beschrieb ich meine letzten Jahre als Teenager, die ich in einer Nervenklinik verbrachte, da es damals als Verbrechen, als Sünde, als Krankheits- und nicht als Unruhesymptom angesehen wurde, wenn man unglücklich war. Dann schrieb ich einen schmalen Gedichtband mit dem Titel
Flechten wie Feuer.
Und dann, aufgrund dieser Bücher, die zu meinem Erstaunen und zu meiner großen Freude veröffentlicht wurden, reiste ich auf die Balearen und nach Spanien, nach England (Edith war gerade nach London gekommen) und in die Vereinigten Staaten, wo ich bei Brian Wilford in Baltimore wohnte (er und Lewis hatten miteinander studiert) und wo ich in New York verschiedene Schriftsteller (ich bezeichnete mich jetzt als «Schriftstellerin») und in Kalifornien die Loudermilks kennenlernte. Ich erinnere mich an diesen ersten Aufenthalt in Baltimore, in Brians Haus (als seine erste Ehe in die Brüche ging, zog er von Glens Falls in ein Eckhaus – ein umgebautes Geschäft – in der Nähe des Krankenhauses, wo er eine Klinik für Dyslexiepatienten leitete). Ich sollte hinzufügen, dass ich Brian kennengelernt hatte, als er uns einmal in Auckland besuchte, und
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