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Auf dem Maniototo - Roman

Auf dem Maniototo - Roman

Titel: Auf dem Maniototo - Roman
Autoren: C.H.Beck
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an der Straßenecke eine Zeitung: ‹Senator erschossen. Kopf in Mülleimer. Vierteldollar einwerfen und hochheben.› Am Ende der Gasse nahm ich die Schlüssel, die Brian mir gegeben hatte, mit dem Pappschildchen, auf dem die Ziffern des Zahlenschlosses standen, und begann mich durch die diversen Schlösser an der Außen- und Innentür hindurchzuarbeiten. Nachdem ich die Kette mit ihrem Schloss bewältigt hatte und in Sicherheit war, sperrte ich die Türen wieder zu, legte die Kette vor und befestigte die schwere Eisenstange in ihren Halterungen. Dann kochte ich in der Küche Kaffee, packte mein Hotdog aus und begann es zu essen, während ich die Zeitung las. Ich las den Leitartikel,
Die Gespenster vonBaltimore,
in dem es um ein Gespenst in Gestalt eines heulenden Hundes ging, das man «bis auf den heutigen Tag» höre und das Edgar Allen Poe zu einer seiner Erzählungen inspiriert habe. Mir fiel ein, dass Edgar Allen Poe in den Straßen von Baltimore zusammengebrochen und gestorben war. Der heulende Hund (das war doch sicher das Geräusch, das ich gehört hatte, der Ruf des Wolfs?), der flatternde Mohrenfächerschwanz, der Piwakawaka: zwei Dichter, die in den Straßen zweier Städte gestorben und zu einem Teil der jeweiligen Stadt geworden waren, zum Gegenstand von Verantwortung und Stolz, und sie auf geheimnisvolle Weise verändert hatten.
    An diesem Abend zeigte ich Brian den Artikel über Edgar Allen Poe und den heulenden Wolf-Hund.
    «Es war sicher das Gespenst, das ich gehört habe», sagte ich. «Damals waren die Hunde doch mehr wie Wölfe, oder?»
    Brian war ein genauer Mensch, und meine vielen Ungenauigkeiten begannen ihn langsam zu ärgern. Aber an diesem Abend beschäftigte ihn Wichtigeres: Auf einer seiner letzten Tagungsreisen hatte er sich eine Spezialuhr gekauft, das Gegenstück zu meinem Hotdog «mit allem Drum und Dran» auf dem Zeitsektor, doch unglücklicherweise ging sie fünf Jahre vor, und sein Problem bestand darin, das Datum auf die Gegenwart zurückzustellen. Es gab unserer Meinung nach nur eine Möglichkeit, nämlich die Uhr durch die Stunden, Tage und Jahre zurückzudrehen. Mit Geduld.
    Wir aßen spät am Abend. Um halb zwei Uhr morgens drehte Brian noch immer seine Uhr zurück, wobei er von Zeit zu Zeit Einzelheiten seines Fortschritts beziehungsweise Rückschritts mitteilte.
    «Nur noch drei Jahre.»
    «Zwei Jahre.»
    «Meine Finger sind am Ende. Es muss doch eine andere Möglichkeit geben.» (Später fand er heraus, dass es tatsächlich eine gab.)
    «Wenn ich mir vorstelle, dass ich jede einzelne Sekunde der nächsten fünf Jahre durchlaufen muss!»
    In den frühen Morgenstunden hatte sich Brian schließlich der fünf überschüssigen Jahre entledigt und war wieder in der Gegenwart.
    Da lag ich schon im Bett und schlief und holte mir Träume aus dem Reservoir der Vielfalt, für die ich jedoch nicht haftbar war, bevor ich nicht ihre Gestalt und Richtung beeinflussen oder verändern konnte, so wie Brian die in die Irre gegangene Zeit auf seiner Armbanduhr wieder in die richtige Bahn gebracht hatte.
    Baltimore wurde für mich nicht nur eine Stadt, in der ich einen Freund hatte, sondern die Stadt eines Dichters, über die – wie über Blenheim – trotz all ihrer Unvollkommenheiten ein Engel der Phantasie wachte. Dieser Ansicht bin ich noch heute, und das erklärt vielleicht, warum ich mich von der Fülle meines Lebens hier, in Taranaki, von der Farbe der Landschaft, dem grünen Gras und den Wäldern, dem strahlend blauen Himmel und diesen goldenen Blumen und Beeren, die im herbstlichen Garten lodern, abwende, um über Blenheim und seine Partnerstadt Berkeley zu schreiben und über Baltimore, wo der graue Asphalt, der rote Backstein und das schwarze Eisen der Lüftungs- und Fenstergitter die Konturen für die Farbe des Lebens in diesem Häuserblock an der Monument Street bilden, wo die Tage ihre Identität nach wie vor nicht aus blühenden Blumen, sondern aus dem morgendlich blühenden Bankraub, dem samstägigen Raubüberfall auf den Supermarkt, dem Samstag-Abend-Mord beziehen; nicht aus demdahintreibenden Blütenschaum der Rhododendron- und Azaleensträucher, sondern aus dahintreibendem Papier- und Verpackungsmüll, und nicht aus zur Schau gestellten gepflegten Gärten, sondern aus den vollgestopften Schaufenstern von Geschäften mit ihren Supersonderangeboten, den wackeligen Pyramiden aus rostigen, verbeulten Dosen mit Thunfisch, Bohnen, Mirabellen und Spaghetti; aus den trostlosen
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