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Auf dem Maniototo - Roman

Auf dem Maniototo - Roman

Titel: Auf dem Maniototo - Roman
Autoren: C.H.Beck
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Schulhöfen nebenan und auf der anderen Straßenseite, dem Saal im ersten Stock, wo der Jugendklub jeden Samstag einen Tanzabend veranstaltet und wo sich die Kinder an den anderen Abenden vor den Eingängen drängen und versuchen, die Schule in Brand zu stecken, indem sie brennende Zettel durch das Schlüsselloch schieben oder in Flaschen gefülltes Petroleum anzünden. Die Kinder, noch nicht im Teenageralter, bewegen sich in Wellen über die Straßen und halten von Zeit zu Zeit inne, um Gruppen zu bilden, zu schreien, zu raufen, zu lachen. Und wie sie lachen! Die Schändlichkeit ihres Treibens vertieft die Reinheit ihres Vergnügens.
    Wenn ich heute an diesen ersten Aufenthalt in Baltimore denke, dann denke ich an die zwei Dichter. Und an den Weißen Wirbelwind.

6
    Tommy, ein Künstler und Kunsthandwerker, wohnte in einer Parterrewohnung in einer Nebengasse im Zentrum. Wollte man eine Stadt kartographisch darstellen, so wie die Generäle ihre Kriege, und Ansammlungen von Slums, Armut, Abfall und Gewalt durch Fähnchen kennzeichnen wie Schlachtfelder und Zonen des Massentodes, dann wäre die Gegend, in der Tommy wohnte, eines der besonders auffällig beflaggten Viertel von Baltimore. Brian hatte von ihm gesprochen und mir, Lewis und den Kindern zu Weihnachten einige seiner kunstgewerblichen Arbeiten geschickt. Er sei ein talentierter, origineller Schmuckhersteller, sagte Brian, sein Ansehen sei im Steigen, und Kenner sähen in ihm eine der großen Begabungen der Ostküste. (Ich weiß mittlerweile, dass die Ostküste der USA mehr Gewicht hat, sich stärker der Welt zuneigt, wie ein mit künstlerischem Ballast beladenes Schiff – jedenfalls, wenn man selber an der Ostküste lebt.) Ich hatte mein Geschenk noch immer, ein Paar Ohrringe, winzige erdkugelförmige Silbergehänge, von den Linien der Längen- und Breitengrade wie von einem Spinnennetz überzogen, in dem die Welt gefangen ist: kein Land, kein Meer; eine glatte, silbern glänzende, leere Erdoberfläche.
    «Du musst Tommy unbedingt kennenlernen», sagte Brian bei meinem ersten Besuch. «Tommy ist einfach genial.»
    Brian musste das wissen, dachte ich, denn schon während seiner Studienzeit in Neuseeland war er Teil der «Avantgarde» gewesen, die dem vordersten Waggon eines Zuges entspricht, der in Neuseeland von jeher zweiter Klasse, in vielenanderen Ländern aber ein Erste-Klasse-Waggon ist, weshalb, weiß ich nicht, es sei denn, er schaukelt weniger, wenngleich er auch bei einem Aufprall gefährdet ist oder im Fall, dass eine Brücke über einem reißenden Fluss zusammenbrechen sollte …
    An diesem Sonntag beschloss Brian, dass er keine Zeit mit dem Abfassen von Fallgeschichten verbringen wollte. Er war in den kleinen Hinterhof gegangen, um seine Pflanzen nach Anzeichen von Wachstum zu untersuchen, und erspähte einen blauen Fleck am Himmel.
    «Schau», sagte er. «Ein blauer Fleck. Und das Basilikum beginnt auszutreiben. Es enttäuscht mich nie.»
    Baltimore mit seinen zweistöckigen Häusern gehört zu den wenigen Städten, in denen man nicht schlicht darauf vertrauen kann, dass der Himmel und sein gewohntes Blau existieren.
    «Heute besuchen wir Tommy.»
    Tommy sei in Paris gewesen, sagte Brian. Vielleicht sei er schon zurück, vielleicht auch nicht. Jemand habe gesagt, er hätte irgendeinen Zusammenbruch gehabt.
    An jenem Nachmittag gingen wir zu Fuß bis dorthin, wo Brian sein Auto in Sicherheit gebracht hatte vor den Kindern, deren Spielplatz die Straße war und die gern Autoantennen abbrachen, um sie als Ruten zu benutzen, so als lebten sie in einem Wald, wo Autos Bäume waren mit Antennen als Zweigen und Scheinwerfern als Blüten. Obwohl Tommys Wohnung nur wenige Häuserblocks entfernt war, führte der Weg über die Eisenbahngleise, am Stadtgefängnis und am staatlichen Zuchthaus vorbei sowie durch mehrere heruntergekommene Straßen mit leeren Geschäften, verbretterten Fenstern und ein paar verwahrlosten, arbeitslosen Menschen, diezusammengekauert auf der Straße saßen und versuchten, sich warm zu halten.
    Wir fanden das Haus. Von außen sah es aus wie ein alter Pferdestall, und vielleicht war es das einmal gewesen, denn die alten Herrenhäuser am Mount Vernon Place waren nicht weit entfernt. Es gab zwei handgeschriebene Türschilder, eines für das Obergeschoss, eines für das untere. Tommy wohnte auf Straßenniveau. Brian drückte auf die Klingel, und nach zwei, drei Minuten öffnete sich die Tür, und Tommy erschien. Er war klein, ziemlich
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