Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume
Autoren: Maurizio Temporin
Vom Netzwerk:
nicht gut schreiben, aber es gab so viele Autoren, die auf wundervolle Weise unglaubliche Geschichten erzählten, und die Interpretationswut der Lehrer war einfach nur ärgerlich. Bücher erklärten sich von selbst, und was man aus den Seiten lernen konnte, sollte jeder für sich selbst entdecken. Es ist unmenschlich, am Ende darüber Bericht erstatten zu müssen.
    Mitunter war die Schule jedoch auch ganz lustig: Sie war wie ein kleines Aquarium, in dem man eine Karikatur unseres zukünftigen Lebens sehen konnte. Ich und Christine waren die bunten Fischchen an einem Korallenriff, und die anderen die Putzerfische – ihr Problem.
    Wir gingen wieder ins Schulgebäude und liefen durch Gänge, die so voll waren wie U -Bahn-Waggons in der Rush-Hour, und holten unsere Bücher für den Naturkundeunterricht aus den Spinden. Ich hoffte, dass wir dieses Mal nichts sezieren müssten. Christine war da anderer Meinung.
    Wir stiegen in den dritten Stock und betraten den großen, geräumigen Saal. Die Sonne zeichnete komische Figuren, als sie sich in den Phiolen brach, die auf einigen Pulten standen. Neben dem Lehrerpult befand sich sogar ein Skelett. Ich wusste, dass es aus Plastik war, aber irgendjemand hatte das Gerücht in Umlauf gesetzt, es sei echt. Wahrscheinlich Leonard.
    Es hieß, es hätte einem Mann gehört, der vor vielen Jahren Rektor an der Schule gewesen war. Die Legende wollte, dass er verfügt hatte, man möge das Fleisch von seinen Knochen entfernen und diese dann an einer Kette aufhängen, sodass er noch als Skelett über die Schule würde wachen können. Manchmal hatte es den Anschein, als würde er einen aus seinen leeren Augenhöhlen anstarren.
    Christine gefiel das, aber Christine gefiel alles, wovor sich andere ekelten.
    Wir setzten uns und bereiteten uns mental auf weitere zwei Stunden Gehirnwäsche vor. Insgeheim hofften wir, dass Leo mit einem neuen Einfall herausplatzen würde.
    Ich drehte mich um, um ihn zu begrüßen.
    Zwei Bleistifte ragten aus seinen Nasenlöchern.
    Leonard war der einzige Junge, mit dem ich mich verstand. Der einzige wirkliche Freund – nach Christine.
    Er saß hinten in den letzten Reihen und erprobte die Wirkung der Schwerkraft mit einem Gummiband und einem Radiergummi. Wie immer trug er viel zu weite Kleider, seine Schnürsenkel waren nicht gebunden, und er liebte Fleecejacken mit Kapuze. Immer und überall fiel er auf, und es war ihm vollkommen egal.
    In der Woche zuvor hatte er sich etwas wirklich Cooles einfallen lassen. Wie gewöhnlich hatte der Lehrer alle namentlich aufgerufen und die Anwesenden abgehakt, bis er schließlich bei Leonards Namen angekommen war.
    »Leonard Sunner?«, fragte der Lehrer.
    Daraufhin stand einer von Leonards Freunden auf und rief: »Leonard Sunner – teletransportiert!«
    In diesem Moment ging der Schrank auf, und Leonard sprang heraus, er stellte sich vorne hin, verneigte sich und nahm den Applaus seines Publikums entgegen. Danach durfte er beim Rektor nachsitzen, was ihm genauso zu gefallen schien wie seine Filmfigurensammlung. Er war ein Fan von Star Wars und Horrorfilmen.
    Nachmittags kam er oft mit Christine zu mir, und dann sahen wir uns zwei, drei Filme hintereinander an.
    Ich glaube, zwischen den beiden knisterte es. Während ich mich bei gruseligen Szenen immer hinter einem Kissen versteckte, umarmten sich die beiden und lösten sich dann sofort wieder voneinander, um gleichmütig in entgegengesetzte Richtungen zu blicken. Sie würden niemals zugeben, etwas füreinander zu empfinden. Zu stolz.
    Auch diese zwei Unterrichtsstunden vergingen mit Säuren, Aminosäuren, tertiären Säuren, Papierkügelchen und -schnipseln, bis es endlich läutete. Die Kaution für diesen Schultag war mit ausreichend vielen Neuronen bezahlt worden.
    Nach der Schule konnte ich endlich meine Sonnenbrille wieder aufsetzen. Im Unterricht erlaubten die Lehrer nicht, dass ich sie trug. Es war eine Erleichterung, wieder den dunklen Schleier vor den Augen zu spüren, der mich beschützte.
    Christine und ich warteten, bis das Gedränge der Schüler nachließ, erst dann gingen wir durch das Portal. Es war ziemlich nervig, ständig auf der Treppe angerempelt zu werden.
    »Ich muss kurz zum Schwarzen Brett«, sagte ich zu ihr, während ich in meiner Schultasche wühlte. »Kommst du mit?«
    Christine hob den Blick zum Himmel. »Das willst du doch nicht wirklich machen? Wenn dich die anderen für eine Streberin halten – ich habe dich gewarnt!«
    Wir gingen am Zaun des
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher