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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume
Autoren: Maurizio Temporin
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jede Menge Sorten, doch hier hoben sich nur violette Iris gegen das glänzende weiße Holz des Hauses ab. Sie sahen fast aus wie gemalt – wie die Blumen in meinem Zimmer.
    Sogar Christine und Leonard blieben stehen, als sie sahen, dass ich reglos dort verharrte.
    »Was ist, Thara?«, fragte Leo.
    Ich hörte ihn ganz deutlich, doch ich konnte nicht antworten. Ich war wie verzaubert von den Blütenblättern, die in der Farbe meiner Augen schimmerten.
    Christine begriff, warum ich so in den sich mir bietenden Anblick versunken war, und kam zu mir.
    »Schön. Wirklich schön«, sagte sie und meinte es auch so.
    Leonard versuchte unterdessen, durch die Fenster zu spähen. »Was gibt’s denn da zu sehen? Mädchen unter der Dusche? Mädchen aus unserer Schule?«
    In der Sonne wogten die Iris leicht im Wind. Sie wirkten lebendig wie tausend Schmetterlinge. Wer sie gepflanzt hatte, musste sie genauso lieben wie ich. Nicht eine war verwelkt, sie sahen alle prächtig aus.
    »Und wenn ich eine pflücke …?«, fragte ich Christine.
    »Ich werde dich bestimmt nicht daran hindern.«
    Ich blickte hinunter auf die Klingel. »Ich könnte fragen …«
    Christine drückte gegen die Latten. Das Tor sprang mit einem kaum hörbaren Quietschen auf. »Scheint nicht nötig zu sein.«
    Normalerweise betrat ich keine Privatgrundstücke, aber ich fühlte mich derart von den Blütenblättern angezogen, dass ich sie sogar lieber gestohlen hätte als Diamanten. Nirgendwo anders hatte ich je so viele Iris auf einem Fleck gesehen.
    Ein Windhauch trug den Duft dieses violetten Meeres zu mir wie eine Welle. Ich atmete tief ein und konnte nicht länger widerstehen.
    Ich trat durch das Tor und spürte das Gras unter meinen Sohlen, weich wie einen Teppich. Kaum war ich auf dem Gartenweg, vergaß ich völlig, dass jemand aus der Tür kommen und mich verjagen könnte. Welch ein Duft! Und diese Farben – sie hüllten mich ein. Alles war so intensiv!
    Freude überwältigte mich, ich spürte, wie mich meine Kräfte verließen, und fiel.
    Ich fiel in die Dunkelheit.
    In das Dunkel der Blumen.

So begann meine erste Reise ins Cinerarium.
    Verloren in der Bewusstlosigkeit und im Dunkeln, hörte ich kraftvolle Schläge in mir, die dumpf und düster hallten, rhythmisch, langsam, stetig. Es war mein Herz.
    Meine Sinne waren verwirrt, nichts ergab einen Sinn, nirgendwo konnte man sich festhalten. Mit dem Mund hörte ich Töne, schwarze Töne, meine Augen berührten glatte, sich wieder auflösende Oberflächen, meine Hände sahen Schluchten und Einsamkeit. Die Verwirrung, in die ich gestoßen worden war, war unbeschreiblich. Ich war wach, aber ich verstand nichts. Ich verstand nicht, was geschehen war, wo ich war, wohin ich ging und ob ich überhaupt irgendwohin ging.
    Einen Moment lang glaubte ich zu sterben.
    Dann schlug ich plötzlich die Lider auf, ein weißer Blitz durchzuckte mich. Ich musste die Augen wieder schließen. Ich setzte mich ruckartig auf und versuchte, mich zu beruhigen. Es ging nicht.
    Als ich wieder zu mir kam, merkte ich, dass ich auf dem Boden saß. Unter mir spürte ich so etwas wie Sand. Meine Hände sanken langsam in einen Haufen Körnchen.
    Ich kniff die Augen zusammen und wagte einen Blick in diese neue Welt. Es war wie eine Halluzination.
    Vor mir lag eine Wüste, eine graue Wüste. Und über mir …, ja, über mir war weißer Himmel.
    Aufmerksamer betrachtete ich das, was meine Finger zu greifen versuchten. Es sah aus wie Sand. Bleicher Sand. Aber leichter, so leicht, dass ein Teil davon in die Luft flog und langsam schwebend wieder herunterfiel, als ich den Arm hob.
    Es sah aus wie Asche. Und alles roch auch wie Asche.
    Mühsam stand ich auf. Es war schwierig, sich auf einem so instabilen, unberechenbaren Boden zu bewegen. Ich zog eine Wolke mit mir hoch, die zu den Dünen hin verwehte.
    Ich sah sie davonwirbeln und blickte dann auf meine Kleidung. In der Aufregung hatte ich nicht bemerkt, dass ich mein langes, violettes Kleid »für besondere Anlässe« trug, das ich auch zu meinem Date mit Esteban angehabt hatte.
    Ich wollte gar nicht wissen, wie das vonstattengegangen war, sicherlich hatte niemand es mir übergezogen, wie mich auch sicherlich niemand hierhergebracht hatte. Es war, als würde ich in eine tiefe Pfütze aus Duft eintauchen, auf deren Grund man nicht blicken konnte.
    Ich schaute wieder in den weißen Himmel, der gar nicht da zu sein schien, als hätte eine riesige Hand ihn weggeschoben. Ich sah genauer hin. Es war
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