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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume
Autoren: Maurizio Temporin
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Er lief barfuß, und das Feuer rückte neben ihm vor.
    Meine Mutter sah ihn als Erste. Das war vor siebzehn Jahren.
    In jenem Moment lag sie auf dem Rücksitz des Wagens, die Hände auf den Bauch gepresst und den Mund zu einem Schrei verzogen. Der Grund für ihren Schmerz war ich. Ich war im Begriff, auf die Welt zu kommen.
    Mein Vater drückte auf die Hupe, als könne er dadurch die Autos vor ihm verschwinden lassen. Er raste so schnell durch die Straßen wie noch nie. Mit seiner warmen Stimme versuchte er, meine Mutter zu beruhigen, sagte, dass sie gleich im Krankenhaus seien. Er sprach davon, wie schön der Moment sein würde, wenn er mich zum ersten Mal im Arm hielte. Meine Mutter hatte darauf nur eine Antwort – die einzigen Worte, die sie unter den Schmerzen der Wehen hervorbringen konnte: »Los, los, los!«
    Und dann passierte es.
    Dad bog gerade Richtung Park ab, als eine Explosion den Wagen an den Straßenrand schleuderte. Ein glühender Pilz aus Flammen und Rauch schoss in den Himmel. In Panik rannten die Leute aus der brennenden Fabrik. Kurz darauf war die Luft mit dichtem, stickigem Qualm erfüllt.
    Mein Vater bremste jäh ab, um nicht in die Menschenmenge zu fahren. Hastig kurbelte er das offene Fenster hoch, dennoch drang ein bisschen von dem schwarzen Gift in den Wagen. Er hustete, und seine Augen brannten. Sie brannten, als hätte man ihm Säure ins Gesicht gespritzt. Deshalb sah er ihn nicht.
    Meine Mutter hingegen, die sich auf die Ellbogen gestützt hatte, sah ihn sehr wohl.
    Er erschien nur für die Zeit eines Atemzugs.
    Er schritt durch die Feuerwand wie durch einen Vorhang. Er blickte sich um, während er sich die langen Haare aus dem Gesicht strich, und schrie. Er schrie in rasender Wut, mit der Gewalt eines wilden Tieres, das seit Jahren nichts mehr gefressen hatte.
    Der Wagen fuhr weiter, bevor die Flammen ihn einholen konnten. Meine Mutter drehte den Kopf und sah durchs Rückfenster, wie er sich auflöste. Sie erzählte mir später, er sei verweht worden wie Asche, weggefegt von einem heißen Windstoß.
    Ich habe diese Geschichte nie geglaubt. Ich dachte, es sei nur eine Halluzination gewesen, eine Wahnvorstellung, hervorgerufen von den Geburtswehen.
    Doch das war nicht das einzig Seltsame, das in dieser irrwitzigen Stunde geschah. Es war Mitte August, und dennoch begann es zu schneien. Ein Schnee, wie es ihn noch nie gegeben hatte. Schwarzer Schnee.
    Er bedeckte die Stadt mit einem dunklen Mantel, während ich in den Armen meiner Mutter die ersten Atemzüge tat. Sie erinnert sich noch daran, wie die Krankenschwestern und Ärzte am Fenster standen und dieses merkwürdige Ereignis bestaunten.
    Die Presse behauptete später, dieser Schnee sei eine Folge des Rauchs aus der Chemiefabrik gewesen, die in Flammen aufgegangen war. Eine rationale Erklärung für etwas, das die Grenzen der Wirklichkeit überschritten hatte.
    Heute weiß ich, was dieses schwarztintige Schneegestöber zu bedeuten hatte. Es war das düsterste Omen. Das Zeichen für die Ankunft eines Wesens aus dem Feuer.
    Doch das war nur ein kleiner Vorgeschmack auf den Schmerz und das Grauen, das über die Welt, meine Welt, kommen sollte – siebzehn Jahre später, als er aus der Asche zurückkehrte, um mich zu verfolgen.

Es war in der Dämmerung.
    An jenem Abend jagten sich hinter den Wohnblöcken große goldene Wolken im warmen Wind. Ich wusste, dass ich nicht hässlich war, aber in den Augen der anderen war ich eine sonderbare Person. Mit einem Jungen essen zu gehen erschien mir wie ein Traum. Ein abwegiger Traum zum Sonnenuntergang, bevor die Nacht kommt.
    Ich war aufgeregt. Ich hatte das Gefühl, ich müsse jeden Moment erwachen. Ich zog die Sonnenbrille hoch, um auf dem Handy die Uhrzeit abzulesen.
    Genau in diesem Moment sah ich Esteban, und ich ließ die Brille wieder auf meine Nase rutschen. Er kam mit diesem verhaltenen Lächeln um die Ecke wie ein Popstar. Vor dem Restaurant befand sich niemand außer mir.
    Wem würde Esteban nicht gefallen? Ein bisschen verwegen, ein bisschen ungehorsam, aber schlau genug, um sich nie erwischen zu lassen. Er war neunzehn, zwei Jahre älter als ich. Ganz kurz fragte ich mich, ob er sich wirklich für mich interessierte, vertrieb diesen blöden Gedanken aber gleich wieder.
    Ich hatte mir immer gewünscht, spontaner zu sein als ich es war – ich wollte locker sein und stellte mir deshalb vor, wie er mich später zu einer Spritztour auf seinem Motorrad mitnehmen würde und wer weiß, zu was
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