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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume
Autoren: Maurizio Temporin
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besonders Dummes zu tun, hilft manchmal, sich darüber klar zu werden, dass gerade das, was wichtig erscheint, oft noch dümmer ist. Natürlich habe ich nicht gelacht wie eine Verrückte, aber ich habe gern mitgespielt. Dann wanderte mein Blick zwischen den Antennen der Häuser und dem Smog, der langsam aufstieg, umher. Meine Euphorie verflog.
    »Was ist?«, fragte Christine besorgt. »Willst du lieber die Geometrieseiten?«
    »Nein«, flüsterte ich. »Ich dachte nur … wenn ich einen Vater hätte, würde ich mich bei den Jungs vielleicht nicht so blöd anstellen.«
    »Sieh mal«, versuchte meine Freundin mich zu trösten, »ich habe einen Vater, und das ist, wie zwei Mütter zu haben, nur dass er die schlimmere Mutter ist. Wenn du mit einem Vater über Jungs redest, sagt er dir nur, du sollst einen großen Bogen um sie machen.«
    Ich seufzte und spürte den Knoten im Nacken, als hinge ich am Galgen.
    »Kann sein … Aber zumindest würde ich mehr über mich selbst wissen. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich mich gar nicht kennen, oder nur zur Hälfte.«
    Christine verzichtete eine Weile auf ihren Sarkasmus und rückte näher. Sie blickte mir so tief in die Augen, wie nur sie es sich traute.
    »Thara, ich kenne dich, du bist ein guter Mensch, vernünftig, vertrauenswürdig. Ganz im Gegensatz zu mir. Vielleicht bist du der einzige Mensch, in dessen Hände ich mein Leben legen würde. Du musst an dich selbst glauben. Ich jedenfalls tue es. Ich bin sicher, dein Vater wäre stolz auf dich.«
    Sie merkte, dass ich gerührt war.
    »Ich hätte ihn eben gern kennengelernt«, erwiderte ich leise. »Warum ist er gestorben, kurz nachdem ich geboren wurde? Was habe ich so Unmögliches an mir?«
    »Es ist diese Welt, die unmöglich ist.«
    »Ich hätte ihn so gern getroffen – und sei es nur für eine Stunde.«
    An diesem Punkt konnte sich Christine eine bissige Bemerkung nicht verkneifen: »Und ich würde gern Johnny Depp treffen, und sei es nur für eine Stunde …«
    Wir lachten und umarmten uns.

»Ich kann mir vorstellen, dass du die ganze Nacht gelernt hast, aber die Klassenarbeit ist jetzt !«
    So weckte mich meine Mathematiklehrerin. Ich setzte mich wieder auf und sah, wie sich ihr breites Hinterteil entfernte. Mein Blick war noch verschwommen vom Schlaf.
    Während ich mir die Wange rieb, hörte ich, wie die halbe Klasse hinter mir lachte. Ein fürchterliches Gefühl, und ich musste es in letzter Zeit immer öfter ertragen. Zu oft. Ich strich meine Haare so hin, dass eine Strähne den Teil meines Gesichts verdeckte, der wahrscheinlich gerötet war.
    Ich seufzte und versuchte nachzuvollziehen, was Frau Sperling auf die riesige schwarze Wandtafel schrieb. Vor lauter Nervosität merkte ich nicht, dass ich an den Nägeln kaute. Und ich unterdrückte ein Gähnen. Frau Sperling hätte mich ganz sicher rausgeschmissen, hätte ich vor ihr den Mund aufgerissen. Unauffällig bückte ich mich und holte die Thermoskanne mit dem Kaffee aus meinem Rucksack. Ich nahm zwei Schlucke und versuchte mich wieder zu fangen. Und ich tat so, als würde ich das Gelächter hinter meinem Rücken nicht hören.
    Christine stieß mich mit dem Ellbogen an.
    »Keine Sorge, ich helfe dir: Ich habe Fotokopien im Mäppchen versteckt.«
    In diesen Dingen war Christine ein Genie. Ich erinnerte mich an eine Geschichtsarbeit, für die sie sich nahezu perfekt präpariert hatte. Es war ihr mit einigem Geschick gelungen, ein paar Notizen in ihr Wörterbuch einzubauen. Sie hatte sich Papier von derselben Farbe und demselben Format besorgt, hatte auf dem Computer zusammengeschrieben, was sie brauchte, und die Seiten so eingeklebt, dass es nicht auffiel.
    Der Lehrer hatte dennoch Verdacht geschöpft und das Wörterbuch kontrolliert, aber Christines Trick war so abwegig und verschroben, dass er nichts gemerkt hatte. Er hatte nach handschriftlichen Notizen gesucht – etwas so Teuflisches hatte er allerdings nicht erwartet.
    Das war eine weitere Stärke meiner Freundin: Sie brachte alle dazu, sie zu unterschätzen. Eine unschlagbare Taktik. »Die Schule ist ein Krieg, der Jahre dauert«, sagte sie immer. »Und im Krieg ist alles erlaubt.«
    An jenem Morgen hätte ich ohne ihre Hilfe nicht einmal meinen Namen und das Datum aufs Blatt schreiben können. Es wurden meine zwei schlimmsten Stunden im ganzen Schulhalbjahr, doch am Ende schaffte ich es, die Arbeit rechtzeitig abzugeben. Und wenigstens war ich nur ein einziges Mal eingeschlafen.
    Normalerweise
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