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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume
Autoren: Maurizio Temporin
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meinem Vater, auch wenn ich ihn nie kennengelernt und noch nicht einmal auf einem Foto gesehen hatte.
    Er war gestorben, als ich noch klein war.
    Während ich die schwarze Tusche auf die Wimpern auftrug, schielte ich zu den beiden anderen hinüber, die sich wahrlich Zeit ließen. Fast hätte ich mir mit dem Bürstchen ins Auge gestochen. Vor ihnen konnte ich mich nicht konzentrieren. Dann endlich gingen sie.
    Hastig wühlte ich in meiner Tasche nach der Thermoskanne. Meine Finger spürten das Metall, ich war erleichtert. Ich schraubte den Deckel ab und führte sie an meine Lippen.
    Ich riss die Augen auf.
    Sie war leer! Hohl wie das Gehirn unseres Sportlehrers! Vor lauter Aufregung, pünktlich zu sein, hatte ich vergessen, sie zu füllen, bevor ich aus dem Haus gegangen war.
    Ich ließ mich mit dem Rücken gegen die Wand fallen. Ich wusste nicht, ob es meine Unsicherheit war, die dieses Gefühl der Kälte in mir hervorrief, oder die Kacheln, an die ich mich lehnte. Ich hatte keine Ahnung, was ich nun tun sollte. Vielleicht könnte ich noch eine Stunde durchhalten. Aber dann?
    Ja, dachte ich, ein Stündchen schaffe ich noch …
    Ich kehrte mit einem so angespannten Lächeln an den Tisch zurück, dass es aussah, als hätte ich es mir mit Lippenstift aufgemalt. Die Speisekarten waren weg.
    »Ich habe schon für uns beide bestellt. Ich hoffe, es stört dich nicht«, sagte Esteban, kaum dass ich mich wieder gesetzt hatte.
    »Nein, nur zu«, gab ich zurück.
    Natürlich störte es mich! Es passte mir nicht, wenn andere über mich bestimmten. Dafür hatte ich ja meine Mutter.
    »Weißt du, nachher treffe ich mich mit ein paar Freunden, und deshalb muss es schnell gehen«, fügte er hinzu.
    Ich konnte ihn schon jetzt nicht mehr ertragen.
    »Macht nichts«, antworteten meine guten Manieren.
    Wenn das ein Test war, um zu sehen, wie weit meine Geduld reichte, würde ich in wenigen Minuten durchgefallen sein. Zum Glück – oder leider – musste ich das nicht mehr abwarten.
    Mir wurden die Lider schwer, meine Umgebung verschwamm, und bevor ich noch etwas dagegen tun konnte, schlief ich ein. Ich sah noch flüchtig, wie die Tischplatte auf mich zukam, und fiel vornüber, mit der Stirn auf den leeren Teller.
    Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, als ich wieder aufwachte, ich weiß nur, dass es draußen dunkel war, als ich die Augen aufschlug – und der Kellner ungeduldig. Ich versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.
    Als ich merkte, dass Esteban nicht mehr da war und offensichtlich allein gegessen hatte, während er mich hier in aller Seelenruhe hatte schlafen lassen, kam ich mir vollkommen lächerlich vor. Gleich darauf wurde ich sehr traurig: Wie lange würde ich wohl warten müssen, bis sich wieder ein Junge mit mir verabredete? Seufzend ließ ich den Kopf hängen. Wenn Esteban jetzt auch noch herumerzählte, wie die Sache gelaufen war, würde sich meine Lage auf nicht wiedergutzumachende Weise verschlechtern. Die sonderbare Thara würde mutterseelenallein in ihrer kleinen Welt weiterleben.
    Ich stellte mir schon vor, was er seinen Freunden sagen würde: »Thara ist eingepennt! Ich schwör’s, wie ein erlegter Büffel ist sie auf ihren Teller gesunken! Das hättet ihr sehen müssen!«
    Wie schön wäre es, ein Frosch zu sein, mit verträumtem Blick und ohne denken zu müssen, es sei denn an kleine Fliegen. Ich hätte nichts dagegen.
    Doch stattdessen wurde mir allein beim Gedanken, das nächste Mal zur Schule gehen zu müssen, übel. Und ich hatte nicht einmal gegessen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich am Montag verhalten sollte.
    Als der Kellner kam und mir die Rechnung brachte, wurde mir klar, dass nicht ich, sondern in Wirklichkeit Esteban die erbärmliche Fliege war. Er hatte nicht nur ohne mich gegessen, er hatte noch nicht mal die Rechnung beglichen!
    Ich lächelte dem Kellner zu, der mich ansah, als hätte man mich gerade aus der Klapsmühle entlassen, und suchte in der Handtasche nach meinem Geldbeutel. Ich opferte meine Ersparnisse und kratzte noch die letzten Münzen zusammen, die vereinzelt in den Taschenfächern lagen.
    Als der Kellner wegging, stand ich auf, wobei ich versuchte, nicht aufzufallen, doch ich spürte die Blicke der anderen Gäste auf mir, als wäre ich ein Nadelkissen. Ich ließ den Kopf gesenkt, aber ich konnte es spüren. In dem Lokal waren noch andere Jugendliche, die ich aus meinen Kursen kannte.
    Ich schlich mich hinaus und blickte hinauf zum Mond. Die Lichter der Stadt
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