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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume
Autoren: Maurizio Temporin
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verschleierten den Himmel und maßten sich an, die Sterne zu überstrahlen. Nur der Mond konnte sich in diesem Kampf der Lichter und Neonleuchten behaupten.
    Dann zog ich mein Handy heraus und suchte Christines Nummer. Ich schluckte und hoffte, sie würde mich nicht zum Teufel schicken. Immerhin war es Samstagabend. Dann verflog meine Sorge – im Grunde war ich ihre einzige Freundin.
    Das Freizeichen. Als sie abhob, musste ich wegen der brüllend lauten Musik das Handy von meinem Ohr weghalten.
    »Hallo?«, schrie ich. »Bist du auf einem Konzert?«
    Die Musik verstummte plötzlich, und Christines Stimme, lustlos und ein bisschen feindselig wie immer, sagte zu mir: »Ja, stell dir vor, Tokio Hotel spielt in meinem Zimmer!« Sie kaute kurz auf ihrem Kaugummi. »Wo soll ich dich abholen?«
    Christine fand mich auf einer Bank auf der anderen Straßenseite vor dem Park. Ohne ein Wort setzte sie sich neben mich. Sie drückte mir einen dreifachen Kaffee in die Hand, den sie auf dem Weg gekauft hatte. Ich lächelte, hatte aber noch nicht den Mut, ihr ins Gesicht zu sehen.
    Sie war wirklich eine gute Freundin, dachte ich, als ich den Deckel von dem Pappbecher nahm. Immer kümmerte sie sich um mich. Wäre sie meine Schwester, könnte ich mir nichts Besseres wünschen. Sie war kein einfacher Mensch, im Gegenteil, sie hatte ein eher kompliziertes Wesen. Ich wusste nie, wie ich sie nehmen sollte, aber dafür wusste sie, wie sie mich zu nehmen hatte.
    »Danke, dass du gekommen bist«, sagte ich schlürfend.
    Der Kaffee war ohne Zucker. Mir genügte es, dass er mich wach hielt. Christine sagte nichts.
    »Inzwischen hasst du mich wahrscheinlich … Immer bist du es, die kommen muss, wenn mir das passiert«, sagte ich, während ich auf den Gehweg starrte, wo alte Kaugummis klebten. »Du bist wirklich die Beste. Ich weiß einfach nicht mehr, wie ich mit diesem Problem umgehen soll … Es ist schrecklich, und die Ärzte haben dafür keine Erklärung. Ich werde immer müder. Tagsüber, nachts … Nur in der Morgen- und Abenddämmerung geht es mir gut. Meiner Mutter wäre es am liebsten, ich würde immer zu Hause bleiben, das weißt du ja, und wenn sie sich nicht auf dich verlassen könnte, würde sie mich gar nicht mehr allein aus dem Haus gehen lassen. Ich mag dich wirklich gern, Christine. Ich hoffe, du weißt, wie wichtig du für mich bist.«
    Dann hatte ich endlich den Mut, mich zu ihr zu drehen. Ich war richtig aufgewühlt, weil ich ihr gesagt hatte, was mir unsere Freundschaft bedeutete, sie aber wirkte völlig abwesend. Sie hatte die Augen geschlossen und wackelte rhythmisch mit dem Kopf. Ich berührte ihren Arm. Da drehte sie sich zu mir um.
    »Hast du was gesagt?«, fragte sie und nahm die Kopfhörer ab.
    Ich brach in schallendes Gelächter aus, als sie mich anstarrte, als sei ich bescheuert – das sagte sie mir daraufhin auch ins Gesicht –, dann gab sie mir einen Ohrstöpsel.
    »Willst du mithören?«
    Ich lehnte dankend ab und schlug vor, besser nach Hause zu gehen. Der Abend war schon aufregend genug gewesen – wenn auch nicht im positiven Sinn.
    Wir standen von der Bank auf und liefen durch den Park, den kürzesten Weg zu mir nach Hause.
    Nachts durch den Park zu gehen war ein bisschen leichtsinnig, aber zusammen fühlten wir uns sicher. Außerdem konnte Christine mit ihrem Blick einen Dobermann zum Winseln bringen, wenn es sein musste.
    Als wir uns in der Schule zum ersten Mal begegnet waren, war sie gerade neu in die Stadt gezogen und hätte mich fast verhauen. Denn an ihrem Spind hatte sie Beschimpfungen entdeckt, und unsere Mitschüler hatten behauptet, ich sei es gewesen. Doch Christine hatte gleich begriffen, dass ich nicht die Schuldige sein konnte und man sie, genau wie mich, von Anfang an zur Außenseiterin abstempeln wollte. »Also«, hatte sie zu mir gesagt, »wenn die anderen uns schon nicht mögen, dann sollten wenigstens wir beide versuchen, uns nicht allzu sehr zu hassen.«
    In ihrem Inneren war sie kein Goth, aber nach außen hin tat sie alles, um so rüberzukommen. Sie kleidete sich schwarz und trug komische Strümpfe. Sie war zu niemandem nett – würde ihr jemand die Hand reichen, sie würde wohl hineinbeißen. Bei mir verhielt sie sich völlig anders. Natürlich verschonte sie mich nicht mit giftigen Antworten und zynischen Kommentaren, aber ich hatte sie auch schon mehr als ein Mal getröstet, wenn sie in Tränen aufgelöst gewesen war. In der Rolle der Unausstehlichen hatte man eben ein schweres
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