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Martin Walser

Martin Walser

Titel: Martin Walser
Autoren: Jörg Magenau
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    BIOGRAPHIE UND LEBEN.
    Zehn Sätze als Nachwort.
    Eine Biographie erfaßt Lebensgeschichte als chronologische Folge von Ereignissen. Sie protokolliert in jedem ausgewählten Augenblick, was überliefert ist. Die Lebenslinien, die so entstehen, setzen sich aus einzelnen Punkten zusammen. Der Porträtierte erscheint immer wieder aus anderer Perspektive und in anderen Zusammenhängen. Aber wie ist er wirklich? Wann entspricht er sich? Wann «stimmt» das entstehende Bild oder die Stimmung?
     
    Die lineare Anordnung könnte das Mißverständnis hervorrufen, es gebe einen Ausgangspunkt und ein Ziel, das früher oder später erreicht, vielleicht aber auch verfehlt wird. Doch Lebensgeschichte ist anders organisiert. Sie kennt keine privilegierten Entwicklungsstufen. Der Alte ist nicht wahrhaftiger als der Junge, nur weil er mehr Erfahrung aufgeschichtet hat. Der Jugendliche ist nicht empfindsamer als der Alte, nur weil er weniger Narben trägt. Ein exaktes Porträt müßte alle Einzelbilder übereinanderprojizieren. Die entstehende Unschärfe ergäbe die größtmögliche Genauigkeit.
     
    Ein solches Unschärfebild läßt die Konstanten schärfer hervortreten. Es zeigt Martin Walser als einen Schriftsteller, der seine unbändige Produktivität aus dem Dissens mit dem öffentlichen Meinen bezieht und zeitlebens in die deutschen Zustände verwickelt ist. Man erkennt einen engagierten Autor, der dem Engagement mißtraut, einen Gesellschaftskritiker, der sich die Lizenz zur Kritik verweigert, einen politischen Autor, der sichgar zu gern als unpolitisch bezeichnet, einen heimatverwurzelten Weltbürger, der sich schwer verorten läßt. Ein Unschärfebild.
     
    Eine Biographie ist eine Erzählung. Sie behandelt Leben als Text und als Szenenfolge. Sie findet auf, fügt zusammen, hebt einzelne Aspekte hervor, zieht Entwicklungslinien nach, baut Spannungsbögen, setzt Pointen. Sie deutet Geheimnisse an, ohne sie auszusprechen. Sie betreibt keine Psychoanalyse und keine Besserwisserei. Bedeutungen ergeben sich aus dem Geschehen, nicht aus der Interpretation. Eine Biographie übt die Kunst der Zurückhaltung.
     
    Eine Biographie ist angewandte Lebensphilologie. Philologie aber eben nicht als mutwilliges Ausdeuten des Textes, sondern so, wie Nietzsche sie entwarf: «Unter Philologie soll hier, in einem sehr allgemeinen Sinne, die Kunst, gut zu lesen, verstanden werden – Tatsachen ablesen können,
ohne
sie durch Interpretation zu fälschen,
ohne
im Verlangen nach Verständnis die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit zu verlieren.» Das läßt sich auf Leben und Werk gleichermaßen anwenden.
     
    Martin Walser beantwortet Fragen nach seinem (Privat-)Leben zumeist mit Verweisen auf seine Literatur. Seine Bücher drücken sein Leben ganz und gar aus. Nicht faktisch, aber atmosphärisch. Mag sein, daß er selbst jeweils Modell stand für seine literarischen Helden, von Anselm Kristlein bis zu Gottlieb Zürn. Trotzdem wäre es falsch, ihn darin entdecken zu wollen. Nicht er steckt in den Figuren, die Figuren ankern in ihm. Sie dienen ihm dazu, sich selbst zu entwerfen. Sie sind keine Spiegelbilder, sondern Detailvergrößerungen. Aber auch die Leser erkennen sich in ihnen. Wäre es nicht so, gäbe es kein Gespräch zwischen dem Autor und seinen Lesern.
     
    Eine Biographie kann unmöglich alles erzählen. Sie muß sich auf einzelne, winzige Momente beschränken und auswählen, was vorgeblich wichtig ist. Das tägliche Frühstück, der Spaziergang am See, der Wind, der in den Bäumen rauscht, die Schulnoten der Töchter, der Geschmack des von der Frau zubereiteten Mittagessens, der glitzernde Schnee unter den Skiern, der Rauch einer Zigarre, das abendliche Fernsehprogramm, das Tanken, das Einkaufen, der Hund: All das kommt zwar vor, nimmt aber nicht den Rang ein, den es im Leben besitzt. Zum Gegenstand des Erzählens wird statt dessen das Besondere, das aus dem Alltag herausragt. Im Leben darf es Stillstand geben. In der Biographie nicht.
     
    Ein Leben wird zur Biographie, wenn es auf ein allgemeines Interesse stößt. Wodurch wird dieses Interesse geweckt? Bei einem Künstler durch die Tatsache, daß er mit seinem Werk eine Antwort sucht auf die historische Formation, in der er sich bewegt. Im Werk wird seine Zeit kenntlich, aber auch, daß er sich nicht damit abfinden will. Das unterscheidet ihn von anderen, die nicht so vernehmbar reagieren. Eine Künstlerbiographie handelt von der Differenz zwischen Kunst und Leben. Sie
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