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"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Autoren: Holger Senzel
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helfen wollte. Meine Güte – was haben wir es doch gut im alten Europa.
    Hamburg, Frühjahr 2011 – Nachtrag
    You got space! Ich habe oft an diesen ausgelassenen Abend in der Bar Sixth in New York gedacht. Du hast Raum bekommen! Denn nach meiner Rückkehr schien sich dieser Raum wieder gewaltig zu verengen. Ich aß in der NDR-Kantine und träumte vom Lunch bei »Balance« in London, wo man draußen sitzen konnte und die roten Doppeldeckerbusse und Bobbies mit ihren komischen Helmen sah. Den Pastrami-Bagles in unserem Delhi in New York. Meine Frau blieb ein Jahr länger, wir führten eine Fernbeziehung. Ich war nach Hause zurückgekommen,
aber es fühlte sich fürchterlich fremd an. Der Sprung aus einem opulenten Hollywood-Schinken in einen Schwarz-Weiß-Dokumentarfilm. Ich fühlte mich überfordert und war oft niedergeschlagen. Abende voller lähmender Schwermut. Morgen, an denen ich mich tieftraurig aus dem Bett quälte. Und es machte mir Angst.
     
    Ich weiß noch immer nicht, ob die Neigung zur Depression in mir steckt. Aber ich kann »stopp« sagen. Arschtritt reloaded sozusagen. Eine Vier-Wochen-Kur gegen Schwermut und Unzufriedenheit. Es hilft eigentlich immer. Ignorieren, was sich gerade nicht ändern lässt. Das Beste machen aus einer Situation. Sich freuen über die positiven Seiten des Lebens – statt zu hadern mit all den Dingen, die gerade nicht so gut laufen. Wenn morgens um drei Schlaflosigkeit die Sorgen zu Fesselballons aufbläht, stehe ich auf und lege Socken zusammen. Mache Liegestütz. Lese Gedichte. Irgendwas tun – bloß nicht grübeln. Denken wird maßlos überschätzt, die besten Augenblicke im Leben sind sowieso gedanken-los. Glück ist gefühlt. Der Drillsergeant hat inzwischen eine Festanstellung in meinem Kopf. Viermal wöchentlich prügele ich mich schlecht gelaunt zum Sport. Ich zwinge mich zum Aufräumen und zu Behördenbriefen, obwohl mir jegliche Organisation aus tiefstem Herzen zuwider ist. Raffe mich zu Spaziergängen und Ausflügen auf, obwohl ich viel lieber auf dem Sofa abhängen würde. Früher habe ich ganze Wochenenden im Schlafanzug mit Pizza, Eis und schlechten Filmen verbracht, den größten Teil meiner Freizeit herrlich vergammelt. Und war doch trotzdem oft so furchtbar angespannt. Jetzt zwinge ich
mich permanent zu Dingen, zu denen ich weder Lust noch Neigung verspüre, einzig weil mein Verstand mir sagt, dass sie wichtig sind oder mir guttun. Und es ist es ein grandioses Gefühl, wenn ich geschafft habe, was mich mir vorgenommen habe. Meine Trägheit überwunden, mich bezwungen, es endlich hinter mir habe. Trotzdem ist es immer noch ein ständiger Kampf. Tag für Tag. Und jeder Sieg über mich selbst macht mich glücklich.
    Fetter Schweinebraten mit krosser Kruste, Eiscreme-Orgien und ein fröhliches Besäufnis mit guten Freunden im Übrigen auch. Ab und an muss man auch den inneren Schweinehund mal gewinnen lassen.
    Ich habe keine Ahnung, wo ich noch »hin will«. Wenn das Leben noch eine Weile so weitergeht, bin ich zufrieden. London – New York – Finkenwerder, ein alter Hamburger Fischervorort. Welch eine Reise. Im Alten Land blühen die Apfelbäume, ich schiebe den Kinderwagen mit meinem jüngsten Sohn. Mit meinem 13jährigen Sohn erinnere ich mich oft an unsere Londoner Zeit, und wir wollen demnächst zusammen ein Kinderbuch schreiben über »Team Eichhörnchen«. Statt Feuerwehrsirenen singen Vögel vor dem Schlafzimmerfenster. Und ich esse jetzt mit meiner Frau in »Oestmanns Fischerhus« – statt in der Bar Sixth. You don’t do nothing – you got space. Du hast Raum gewonnen.
    Ich habe keine Ahnung, wo ich noch »hin will«. Wenn das Leben noch eine Weile so weitergeht, bin ich zufrieden.
    In Hannover gibt es jetzt eine Robert-Enke-Straße. Depression ist seit dem Suizid des Nationaltorwarts ein großes
Thema. Es hat mich überrascht, wie viele Menschen plötzlich ganz offen über ihre seelischen Probleme sprechen. »Ich habe auch mal eine Therapie gemacht«, das erzählen mir Leute, von denen ich das früher nie erwartet hätte. Kollegen berichten freimütig von erzwungenen Auszeiten. Von Burnout, der Depression für Leistungsmenschen. Einen Burnout muss man sich durch harte Selbstausbeutung erst verdienen, während Depressionen auch Hausfrauen und Arbeitslosen bekommen können.
    In keinem anderen Bereich des Gesundheitswesens sind die Kosten derart explodiert wie bei der Behandlung psychischer Störungen. Um mehr als ein Drittel in nur sechs Jahren
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