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"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Autoren: Holger Senzel
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Bandenkrieg und täglich gab es Tote bei Schießereien, die Polizei war korrupt – und der setzte die sowieso viel zu wenigen Officers ein, sich um kaputte Fenster und beschmierte U-Bahnen zu kümmern. »Habt ihr keine wichtigeren Probleme?«, möchte man da doch dazwischenrufen. Aber es hat funktioniert. So ähnlich wie mein »Arschtritt«-Programm: Wenn dir die unlösbaren Megaprobleme über den Kopf wachsen, dann fang doch erst mal mit dem Kleinkram an. Ja genau – mit dem, was sonst liegen bleibt, weil du sagst: »Ey, meine Frau hat mich verlassen, mein Hund ist tot und
ich hasse meinen Job – und du schlägst allen Ernstes vor, meinen Schrank auszumisten? Hast du sie noch alle?« Aber Kleinkram macht eben bekanntlich auch Mist – und in der Summe kosten all die unerledigten Randprobleme ebenfalls eine Menge Energie. Also wasch ich die Graffiti von meiner Seele und zeige null Toleranz gegenüber den Steinewerfern in meinem Herzen.
    Vor drei Jahren war ich überzeugt, die beste Zeit meines Lebens liege hinter mir. Ich wusste nicht, dass sie noch kommen würde.
    Ich habe am Ende 88 Tage gebraucht, um meine Aktion erfolgreich abzuschließen. Fast drei Monate lang! Hätte ich das vorher gewusst, hätte es mich mutlos gemacht. Eigentlich wird es ja leichter mit der Zeit – hart gegen sich selbst zu sein. Nach drei Wochen ist es keine große Herausforderung mehr, irgendwelchen Versuchungen zu widerstehen. Aber genau das ist das Problem: Es fehlt der Thrill! Es ist so normal, dass es fast schon langweilig wird. Und du dann natürlich erst Recht nur die öden Seiten des Ganzen siehst. Und dann entkorkt ein alter Freund eine wirklich gute Flasche Wein, und du denkst: Ich brauch das nicht, ich bleib stark! Und eine Minute später: Scheiß drauf! Wär’ schade um den Wein … Oder du schaust die Kuchen in einem Konditorei-Schaufenster an und sagst dir standhaft: Muss ich nicht haben. Und gehst rein – und kaufst zwei Stücke, die du begierig herunterschlingst. Drei Tage vor dem Ziel. Aber es ging ja auch um Nichts, ich musste Niemandem etwas beweisen außer mir selbst. Abgesehen davon war »Aktion Arschtritt«
inzwischen doch völlig überflüssig geworden, sagte ich mir. Weil ich mich doch längst an ein gesundes, maßvolles Leben gewöhnt, mich aus Abhängigkeiten gelöst hatte. So wie ich mir meinen Alltag langfristig wünschte: Nicht den eines Asketen – sondern eines maßvollen Genießers. Aber letztlich war es halt die Frage, ob ich mich selbst Ernst nehme. Und ich habe diesen Vertrag ja mit großem Ernst beschlossen! Damals, als ich es eine gute Idee fand, sich der Seele mal von außen zu nähern. Irgendwann – nach einer feuchtfröhlichen Party – war ich dann einfach nur noch genervt von mir selbst. Dass ich es nicht mal vier Wochen lang auf die Reihe kriege, das zu tun, was ich mir vorgenommen habe. Vier Wochen – das klingt eigentlich nach gar nichts! Gestresst hat mich dabei nicht der Sport und die Bücher oder das Theater und die Hausarbeit. Das war toll, weil ich sehr schnell gemerkt habe, wieviel ich bewegen konnte. Ich mich gesund, stark und neugierig gefühlt habe. Es war schön, all diese Veränderungen zu sehen. Aber mit einem Glas Wein oder einer Tasse Kaffee wäre es manchmal noch schöner gewesen. Weil Genuss und Lebensfreude für mich immer hieß, mir ›etwas zu gönnen‹. Irgend etwas zu konsumieren. Und dann nähst du Knöpfe an, und denkst, wie schön es doch wäre, es sich mit einem Schokoladeneis vor dem Tatort gemütlich zu machen … Du musst lernen, die Leere mit dir selbst zu füllen! Das hört sich großartig an, aber es kann auch ganz schön bedrohlich sein, diese Leere zum ersten Mal in ihrem ganzen Ausmaß zu erfassen. Ich scheue mich, von einer Reise zu mir selbst zu sprechen, weil das so abgedroschen klingt. Jedenfalls habe ich eine Menge über mich gelernt. Wie
schwach und bedürftig ich sein kann. Und wieviel ich aushalte. Und dass ich tatsächlich Freude aus mir selbst schöpfen kann. Ich habe mich verdammt stark gefühlt, als ich nach 88 Tagen endlich meinen Vertrag mit mir selbst erfüllt hatte. Es war ein echter Triumph an diesem Samstagnachmittag, und es war großartig ihn allein zu genießen.
     
    Auf mich! Ich proste meinem Spiegelbild zu. Champagner zur Feier des Tages. Ein großer schlanker Mann in einem verteufelt gut sitzenden Anzug schaut mich an. Nicht mehr jung, aber stark und mit Selbstvertrauen im Blick. Den neuen Anzug habe ich mir als Belohnung gegönnt.
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