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"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Autoren: Holger Senzel
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haben mich meine Eltern geprägt. Ständig entdecke ich Eigenarten an mir, die mir bei meinem Vater unsagbar auf den Geist gegangen sind. Ich habe meinen Eltern lange gegrollt für all das, was sie nach meinem Dafürhalten an uns Kindern falsch gemacht haben. All die unbedacht und nachlässig zugefügten Verletzungen der kindlichen Seele, an denen wir lange tragen. All das, was ich nicht bekommen habe auf dem Weg ins Erwachsenendasein … Aber ist das nicht ein bisschen absurd und selbstgerecht: Ein Mann, der drei Kinder mit drei Frauen hat, wirft seinen Eltern vor, dass sie bei der Erziehung versagt haben? »Weil sie dir kein Selbstvertrauen mit auf den Weg gegeben haben, ist doch klar.«
    Solche Gespräche führen Menschen, die heute alle Möglichkeiten haben, sich zu verwirklichen, über Menschen, die ihr frühes Erwachsenenleben in der spießigautoritären Enge der Fünziger Jahre erlebten. Als man wegen einer Schwangerschaft heiraten »musste« – und die Ehe zwischen einem Protestanten und einer Katholikin ein Problem war. Meine Eltern haben sicher ihr Bestes gegeben, und vieles wussten sie einfach nicht besser. Warum soll ich ihnen nicht dieselben Irrtümer zugestehen wie mir? Meinen Frieden machen, den ganzen Groll über Bord werfen. Weil der doch sowieso bloß die eigene
Seele vergiftet. Irgendwann sollte man mal aufhören, immer wieder alte Fässer aufzumachen. Da ist eh nicht drin, was man sucht. Sondern sein eigenes Leben leben.
    »Hast du W. gesehen? Der Film über George W. Bush – da siehst du mal, welchen Einfluss Väter haben …« Ich habe ihn gesehen. Oliver Stones Werk über einen ziemlich unbedarften Kerl, der als Gouverneur mit Cowboystiefeln in Texas hätte bleiben, große Steaks grillen und glücklich werden sollen. Aber er musste unbedingt Präsident werden. Weil er Papa etwas beweisen wollte. Der auch Präsident war, und der ihn immer für einen Taugenichts gehalten hat. Und deshalb fing er auch den Irakkrieg an – weil sein Vater es nicht bis Bagdad geschafft hat. Und am Ende versagte er kläglich und stotterte hilflos vor der Presse, dass es einen beim Zuschauen vor lauter Fremdschämen ganz beklommen machte. Aber kann man George Bush senior das vorwerfen?
    »Unbewusst lebe ich die Ehe meiner Eltern in den eigenen Beziehungen nach …« Der Dicke mit den Donald-Duck-Socken. Gleich wird er mir von seinen Träumen erzählen oder welches psychische Problem hinter dem autoritären Gehabe seines Chefs steckt. Wenn ich sein Chef wäre, würde er mich auch rasend machen. Nimm mal zehn Kilo ab, kauf dir ’ne anständige Klamotte und entspann dich – dann läuft’s auch besser mit den Frauen. »Na du machst es dir aber mal wieder ganz einfach, was?!« Natürlich, warum soll ich es mir auch schwer machen? Ich weiß nicht, warum Therapiepatienten oft so rüberkommen wie schlechte Psychologenwitze. Wieso sie sich eigentlich immer so ungeheuer wichtig nehmen? » Weil ich mir wichtig bin! Und wenn ich es nicht tue, tut es auch
kein anderer.« Aber das ist doch genau dein Problem, dass du dich immer nur um dich selbst drehst. Weil du ein Kind geblieben bist, dass keinen anderen Bezugspunkt als sich selbst kennt. Warum macht mich dieses Gespräch so wütend? Weil ich das auch getan habe? Immer nur in mich hineingehorcht, was dieses mit mir macht und jenes mit mir tut. Dabei habe ich mich bloß geweigert, erwachsen zu werden. Verantwortung zu übernehmen. Wie so viele rund um mich herum. Du kannst in einer Beziehung – ob mit Geliebten, Eltern, Freunden – nicht deren »Probleme beim anderen lassen«. Wenn dein Partner ein Problem hat, hast du auch eins. Den Schlüssel zu meinem Herzen – nah bei seinen Gefühlen sein, würde es in der Therapie heißen – finde ich nicht durch das Graben in der eigenen Seele. Sondern durch offene Augen und Interesse an anderen Menschen.
     
    Es gibt eine amerikanische Langzeitstudie über Menschen, die den Terroranschlag 11. September in New York überlebten. Die Forscher haben nach zwei Jahren keinen signifikanten Unterschied festgestellt zwischen denen, die ihre Erlebnisse mit einer Therapie verarbeitet haben, und jenen, die einfach ihr früheres Leben wieder aufgenommen haben. Das besagt ja nicht, dass Therapie von vornherein nutzlos ist, sondern dass jeder Mensch in Herrgotts großem, buntem Garten anders tickt und die menschliche Psyche zu komplex und vielschichtig ist, um sie in Schubladen zu stecken, und jeder am Ende seinen Weg selbst finden muss.

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