Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Autoren: Holger Senzel
Vom Netzwerk:
meine Ausgaben halbiert ohne mich bewusst einzuschränken. Deshalb bin ich bis heute beim Bargeld geblieben.
    »Besser der Liebe wegen nach New York als nach Idaho.« Noch so ein Spruch von dem Typen an der Bar. Ich war dabei, als Geschichte geschrieben wurde, und
durfte nicht berichten. In dieser rauschhaften Nacht von Obamas Sieg, als aus Tausenden Fenstern der Hochhäuser Menschen aus Leibeskräften »Change« brüllten und der Jubel sich in den Hochhausschluchten fortpflanzte. Auf allen Straßen ein frenetisches Hupkonzert, die Bürgersteige voller lachender, freudetrunkener Menschen. Und auf dem Union Square tanzten und sangen sie unter einem riesengroßen Sternenbanner, weil es nicht mehr für die Schande von Guantánamo stand, sondern für Hoffnung, Aufbruch und Zuversicht.
    Es ist der Traum eines jeden Journalisten, darüber berichten zu dürfen – aber ich habe nur meine Frau begleitet. Sie hat berichtet, und ich habe sehr intensiv in mich hineingehorcht, ob ich Bedauern oder gar Neid empfinde. Ich habe über den Fall der Mauer, die Golfkriege und Tony Blair berichtet; es ist ein erhebendes Gefühl, als Chronist großer Momente dabei sein zu können. Aber nie habe ich einen solchen Augenblick so erlebt wie in jener New Yorker Nacht, als die USA ihren ersten farbigen Präsidenten wählten. Wo ich einfach nur dastehen und staunen und fühlen konnte, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wie ich daraus eine Reportage forme. I got space …
    Ein schwarzer Bettler rannte mir entgegen, stolperte, hüpfte. Ein zerlumpter alter Mann mit einem einzigen Zahn im Mund schrie immer wieder: »We won, we won, we’ve made it …« Ich weiß nicht, was dieser obdachlose Bettler durch den Sieg eines Bruders gewonnen hatte. Was es an seinem trostlosen Leben änderte, wer in Washington im Weißen Haus saß. Aber vielleicht ist das eine sehr europäische Frage.

    Von dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in das sich ein zehnjähriger Junge aus Nordhessen träumte, weil die Amerikaner einen Mann auf den Mond gebracht hatten und mit riesigen Straßenkreuzern umherfuhren, ist nicht viel geblieben. Grand Central, Brooklyn Bridge, Tiffany – man kennt das alles aus unzähligen Fernsehserien und Filmen, und deshalb kommt einem Amerika sehr vertraut vor, noch bevor man das erste Mal da ist. Aber das täuscht. Wenn ich frühmorgens in New York zum Schwimmen gehe, dann sehen die Straßen eher aus wie in Kalkutta. So viele Bettler in den Hauseingängen, hinter Pappe auf zerlumpten Matratzen und Schlafsäcken, ein Paar ist darunter, aneinandergekuschelt auf der Straße, jeder Intimität beraubt. Oft heißt es dann: Selber Schuld. Warum wirst du denn nicht reich? Neulich habe ich mit einem Bekannten über Obamas Gesundheitsreform gesprochen – Millionen Amerikaner sind bis heute nicht krankenversichert. Und er sagt, dass Krankenkasse »sozialistischer Mist« sei. Weil die Armut anderer nicht sein Problem sei, sondern deren persönliche Entscheidung. Das sei schließlich Amerika, und hier könne es jeder schaffen. Wenn er nur wolle. Ein echt netter Kerl, auch nicht doof. Aber was macht er, wenn die Armen irgendwann nicht mehr stillhalten und in sein schönes Haus einbrechen? Er lächelt freundlich und sagt: »There-fore I’ve got a gun.«
    Ich möchte nicht auf Dauer in einem Staat leben, der den Starken nichts abverlangt und die Schwachen sich selbst überlässt. »Sollen tatsächlich Leute wählen dürfen, die sich nicht mal selbst ernähren können?« So was fordern hier allen Ernstes prominente Politiker und
Radiomoderatoren. »Du mit deiner europäischen Arroganz … «, das höre ich hier häufiger. Stehe quasi von vornherein unter Sozialismusverdacht. Steuern zahlen ist unamerikanisch. Und wie sie sich alle abrackern und abstrampeln, um es zu schaffen. Bis nachts im Büro sitzen und sich coachen lassen und die Zähne bleichen und frühmorgens joggen. Effizient bis in die Partnersuche, zielstrebig und kontrolliert schon mit 23. Bei Partys steht auf der Einladung schon drauf, um wie viel Uhr sie zu Ende sind – und zehn Minuten vorher werden tatsächlich die Gläser eingesammelt. Wenn du dann trotz aller Plackerei in der Krise deinen Job verlierst und die Hypothek nicht mehr zahlen kannst – dann hast du halt versagt, niemand hat dich gezwungen, den Kreditvertrag zu unterschreiben. Die Republikaner haben wütend gegen das sogenannte »Losers manifesto« protestiert – mit dem Obama von der Krise bedrängten Hausbesitzern
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher