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Unsere schoenen neuen Kleider

Unsere schoenen neuen Kleider

Titel: Unsere schoenen neuen Kleider
Autoren: Ingo Schulze
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STATT EINES VORWORTES
    Am Ende der Begriffe beginnen
die Geschichten
    Im März 2011 war ich zu einer Buchvorstellung nach Portugal eingeladen. Der Abend mit Lesung und Diskussion war gut besucht, das Publikum geduldig. Die Frage eines jungen Mannes jedoch ließ die freundlich interessierte und offene Atmosphäre von einem Moment auf den anderen kippen. Mit einem Mal waren wir nur noch Deutsche und Portugiesen, die einander feindselig beäugten. Die Frage war unschön – ob wir, gemeint war ich, ein Deutscher, nicht jetzt mit dem Euro und unseren Exporten das schafften, was wir damals mit unseren Panzern nicht geschafft hätten. Niemand aus dem Publikum widersprach, im Gegenteil: Es war still geworden vor lauter Erwartung, als hätte endlich jemand die entscheidende Frage gestellt. Und ich reagierte – als wäre das alles nicht schon schlimm genug – plötzlich wie erwartet, nämlich als Deutscher: Es werde ja niemand gezwungen, einen Mercedes zu kaufen, sagte ich beleidigt, und sie, die Portugiesen, sollten doch froh sein, wenn sie Kredite bekämen, die billiger wären als die marktüblichen Bankkredite. Ich hörte förmlich das Zeitungspapier zwischen meinen Lippen rascheln. In dem Getöse, das meiner Entgegnung folgte, kam ich endlich zu Verstand. Da ich das Mikrofon in der Hand hielt, stammelte ich in meinem unvollkommenen Englisch, dass ich nun genauso dämlich wie sie reagiert hätte, dass wir ja allesamt in dieselbe Falle tappten, wenn wir als Portugiesen und Deutsche wie beim Fußballspiel reflexartig Partei ergriffen für die eigenen Farben. Wie könnten wir nur so dumm sein und glauben, es ginge um Deutsche und Portugiesen und nicht um oben und unten, also darum, wer in Portugal wie in Deutschland diese Situation herbeigeführt und an ihr verdient habe und nun immer weiter verdiene? Würden nicht in Portugal wie in Deutschland (und nicht nur in diesen Ländern) die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert? Würden nicht in Deutschland wie in Portugal alle Lebensbereiche mehr und mehr ökonomisiert, das heißt privatisiert und damit dem Gewinnstreben unterworfen – und das auch in Bereichen, in denen es unsinnig, ja geradezu gefährlich sei? Und sei nicht die Demokratie durch die Finanzkrise und die durch sie verschärfte Schuldenkrise bereits schwer beschädigt?
    Ich erwähnte auch, wie bekannt mir diese Art Vorwürfe und Reaktionen vorkämen. Genau so hätten wir in Deutschland gestritten (und streiten manchmal noch immer), Ost gegen West, West gegen Ost. Die aus dem Westen sagen, wir geben euch Jahr für Jahr zig Milliarden, damit ihr eure Häuser und Straßen und Spielplätze sanieren könnt, jetzt reicht es, wir sind selbst darüber verarmt! Und die Ostler sagen, ihr habt uns alle Arbeit genommen, fischt den Gewinn ab, denn es sind doch allein Westfirmen übrig geblieben. Unsere Produkte gibt es nur noch im Museum.
    Ich kann nicht sagen, dass wir uns daraufhin in die Arme gefallen wären, aber ein Gespräch wurde wieder möglich. Und ich bekam zu hören, was die Sparauflagen der EU für sie bedeuten. Es bleibe gerade so viel, um das Notwendigste zu bezahlen, und nicht einmal das sei immer gegeben.
    Situationen wie die bei der Lesung in Porto wiederholen sich mehr oder weniger ähnlich bei anderen Lesungen im Ausland oder in entsprechenden Interviews. So wie ich lange Zeit immer wieder zum Ostdeutschen gemacht wurde, der etwas zum Gegensatz zwischen Ost und West sagen sollte, so werde ich jetzt auf den Deutschen reduziert, der für die Politik der Bundesregierung in Haftung genommen wird und etwas zum Gegensatz zwischen Deutschen und Griechen, Deutschen und Italienern, Deutschen und Ungarn sagen soll.
    Wenn ich dann von verschiedenen Interessen innerhalb eines Landes spreche, von sozialen und ökonomischen Fragen und der Polarisierung der Gesellschaft, so wird das in aller Regel als ein Ausweichen gewertet. Es ist erschreckend, mit welch untauglichen Kriterien öffentliche Diskussionen geführt werden und wie unpolitisch sie geworden sind. Versuche ich, mir diese Entpolitisierung und damit die Seligsprechung des Status quo zu erklären, komme ich immer wieder auf den Mauerfall zurück. Das glorreiche Jahr 1989 hatte neue Selbstverständlichkeiten zur Folge, derer ich mir erst langsam bewusst wurde. Fast zehn Jahre lang glaubte ich, aus einer Welt, die aus Worten bestand, in eine Welt geraten zu sein, in der nur Zahlen zählen. Es hatte den Anschein, als wären alle Zwänge Sachzwänge
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