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Unsere schoenen neuen Kleider

Unsere schoenen neuen Kleider

Titel: Unsere schoenen neuen Kleider
Autoren: Ingo Schulze
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dieses Märchen kennt und weil es gesellschaftliche Mechanismen beschreibt, die offenbar vor 175 Jahren nicht weniger bedrängend waren als heute.
    Was offensichtlich ist, muss keineswegs auch als offensichtlich wahrgenommen werden.
    Ich habe das Märchen in der Hoffnung wiedergelesen, in ihm ein Muster zu finden, das meine eigenen Erfahrungen ins Bild setzt und sie mich damit besser verstehen lässt.
    Die Drucklegung der am 26. Februar 2012 gehaltenen Rede gab mir die Möglichkeit, den Text zu überarbeiten und an jenen Stellen zu ergänzen, an denen ich zuvor durch die Grenzen der Redezeit genötigt war mich kürzer zu fassen, als es die Sache erfordert hätte. Der Wortlaut der gehaltenen Rede findet sich auf meiner Internetseite.
    Ich danke dem Staatsschauspiel Dresden und der Sächsischen Zeitung für ihre Einladung zu den Dresdner Reden. Danken möchte ich dem Dresdner Publikum wie auch all jenen, die mir durch Zuspruch und Kritik geholfen haben, unsere schönen neuen Kleider in Augenschein zu nehmen.
    Manche Gedanken sind in der Zwischenzeit erfreulicherweise von anderen aufgegriffen worden. So setzte beispielsweise das SPD -Trio Gabriel, Steinbrück, Steinmeier in seinem Beitrag vom 1. April 2012 für die FAZ der »marktkonformen Demokratie« nun die Forderung nach »demokratiekonformen Märkten« entgegen. Ob dieselben Begriffe auch ähnliche Inhalte bedeuten, wird sich zeigen müssen.
    Berlin, Mai 2012

UNSERE SCHÖNEN NEUEN KLEIDER
    Gegen die marktkonforme Demokratie —
für demokratiekonforme Märkte
    Meine sehr verehrten Damen und Herren!
    Sie alle kennen das Märchen Des Kaisers neue Kleider von Hans Christian Andersen. Es ist ein Märchen, das sich leicht nacherzählen lässt, denn es läuft auf eine Pointe hinaus, die man kennt – oder zu kennen glaubt – und die in unserem Alltagsbewusstsein gegenwärtig ist. Sooft ich selbst an das Märchen dachte oder es nacherzählte, endete ich damit, dass durch den Ruf eines Kindes: »Aber der Kaiser hat ja gar nichts an!« der ganze Schwindel auffliegt und das Volk schließlich ruft: »Aber er hat ja gar nichts an!«
    Doch so war es nur in meiner Vorstellung. Hans Christian Andersen lässt seine Geschichte besser, das heißt, er lässt sie mehrdeutiger enden, auch wenn es nur zwei Sätze sind, die meine Erinnerung unterschlagen hat.
    Erlauben Sie mir bitte, Ihnen das Märchen vorzulesen, es nachzuerzählen wäre längst nicht so schön.
Des Kaisers neue Kleider
    Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der so ungeh,euer viel auf neue Kleider hielt, daß er all sein Geld dafür ausgab, um recht geputzt zu sein. Er kümmerte sich nicht um seine Soldaten, kümmerte sich nicht um Theater und liebte es nicht, in den Wald zu fahren, außer um seine neuen Kleider zu zeigen. Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und ebenso wie man von einem König sagte, er ist im Rat, so sagte man hier immer: »Der Kaiser ist in der Garderobe!« In der großen Stadt, in der er wohnte, ging es sehr munter her. An jedem Tag kamen viele Fremde an, und eines Tages kamen auch zwei Betrüger, die gaben sich für Weber aus und sagten, daß sie das schönste Zeug, was man sich denken könne, zu weben verstanden. Die Farben und das Muster seien nicht allein ungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die von dem Zeuge genäht würden, sollten die wunderbare Eigenschaft besitzen, daß sie für jeden Menschen unsichtbar seien, der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei. ›Das wären ja prächtige Kleider‹, dachte der Kaiser; ›wenn ich solche hätte, könnte ich ja dahinterkommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem Amte, das sie haben, nicht taugen, ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, das Zeug muß sogleich für mich gewebt werden!‹ Er gab den beiden Betrügern viel Handgeld, damit sie ihre Arbeit beginnen sollten. Sie stellten auch zwei Webstühle auf, taten, als ob sie arbeiteten, aber sie hatten nicht das Geringste auf dem Stuhle. Trotzdem verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold, das steckten sie aber in ihre eigene Tasche und arbeiteten an den leeren Stühlen bis spät in die Nacht hinein. ›Nun möchte ich doch wissen, wie weit sie mit dem Zeuge sind!‹ dachte der Kaiser, aber es war ihm beklommen zumute, wenn er daran dachte, daß keiner, der dumm sei oder schlecht zu seinem Amte tauge, es sehen könne. Er glaubte zwar, daß er für sich selbst nichts zu fürchten brauche, aber er wollte doch erst einen andern
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