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Unsere schoenen neuen Kleider

Unsere schoenen neuen Kleider

Titel: Unsere schoenen neuen Kleider
Autoren: Ingo Schulze
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überhaupt keine Unterschiede feststellen lassen, wenn sich nur herausstellt, dass alle für das Amt geeignet sind und kein einziger dumm ist. Oder funktionieren sie nicht? Sind sie nur ein Vehikel, das Opportunismus erzeugt und die Menschen entmündigt? Ist das alles nicht ein schlau eingefädelter Betrug?
    Gefragt nach meinen Interessen, würde ich sagen:
    Als Bürger dieses Landes bin ich auf Demokratie angewiesen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Demokratie bedeutet ein Gemeinwesen, das in der Lage ist, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Fehlen ihm die finanziellen Mittel oder das geeignete Personal dazu, so stellt es sich selbst in Frage. Deshalb müssen Vertreter gewählt werden, die die Interessen des Gemeinwesens wahrnehmen und es vor Ausplünderung schützen. Es braucht Vertreter, die willens und in der Lage sind, eine marktkonforme Demokratie zu verhindern und demokratiekonforme Märkte zu schaffen. Es braucht Vertreter, für die Freiheit und soziale Gerechtigkeit untrennbar voneinander sind – nicht nur auf nationaler Ebene. Und es braucht eine Mehrheit, die das will und einfordert.
    Vor einem Jahr kam es in Berlin zu einem Volksbegehren, das de facto den ersten Schritt zu einer Rekommunalisierung der Berliner Wasserbetriebe darstellt. Der rot-schwarze Senat hatte 1999 49,9 Prozent der Berliner Wasserbetriebe an RWE und Veolia verkauft, wobei die nicht öffentlichen Verträge Gewinngarantien für die Privaten vorsahen. Neben anderen fatalen Auswirkungen stiegen die Berliner Wasserpreise im Schnitt um 30 bis 35 Prozent. Das Volksbegehren musste auch gegen den Widerstand des rot-roten Senats durchgesetzt werden. Trotz des politischen Gegenwindes und eines erschreckenden Desinteresses der Medien gelang das Wunder: Es kam über etliche Zwischenetappen zum Volksentscheid, und der wurde gewonnen, obwohl das Budget der Aktivisten nur bei etwa fünfundzwanzigtausend Euro lag. Das Niederschmetternde daran ist allerdings, dass diese Initiative von einem Dutzend wacher Demokraten sich gegen den gesamten demokratischen Apparat durchklagen musste und dass es darum ging, Beschlüsse von demokratisch gewählten Vertretern rückgängig zu machen. Jetzt hat sogar das Kartellamt verfügt, die Berliner Wasserpreise um 19 Prozent zu senken. Das Gemeinwesen, in diesem Fall der Berliner Senat, hätte einfach nur sagen müssen: Sauberes Wasser ist ein Menschenrecht, das liefern wir nicht privatem Gewinnstreben aus.
    Ein anderes Beispiel erlebte ich hier in Dresden vor zwei Jahren, am 13. Februar 2010, als es zum ersten Mal gelang, den Neonaziaufmarsch tatsächlich zu verhindern. Vor zwei Jahren war es das offizielle Gedenken, organisiert von der Dresdner Oberbürgermeisterin, das mit einer Menschenkette ein Zeichen setzen wollte. Was mich damals skeptisch gegen diese Aktion machte, war die Diskriminierung, ja Kriminalisierung derjenigen, die den Neonaziaufmarsch durch friedliche Straßenblockaden verhindern wollten. Die Neustadt, so konnte man in der Lokalpresse nachlesen, überließ man den Rechten und Linken und der Polizei, sollten die sich doch kloppen. Dass es trotz dieser Diskriminierung, trotz der Nichtgenehmigung dieser Gegendemonstrationen, trotz der Beschlagnahme von Computern und Material der Organisatoren gelang, die Neonazis am Marschieren zu hindern, machte glücklich. Unglücklich machte, wie lange Polizei, Verfassungsschutz und Stadtverwaltung dann brauchten, um zu erkennen, wer eigentlich zu beobachten und zu kontrollieren gewesen wäre. Hauptsache jedoch war, dass die Blockaden hielten und dass sie Schule machten und nun offenbar zur Tradition geworden sind. Hier wurde ein Verhalten geübt, das nicht nur zur Verhinderung von Neonaziaufmärschen geeignet ist.
    Ich bin am Ende meiner Rede. Wie Sie sehen, hatte ich Ihnen nichts Neues zu sagen. Es geht darum, sich selbst wieder ernst zu nehmen, wieder zu lernen, die Interessen unseres Gemeinwesens zu formulieren und einzufordern und nach Gleichgesinnten zu suchen. Was wir Öffentlichkeit nennen, beginnt schon mit der Sprache eines jeden von uns. Wir müssen, wie auf den Straßen von Dresden oder bei dem Volksbegehren in Berlin, über die Geste und die symbolische Handlung hinaus unseren Willen gewaltlos kundtun, und dies – wenn nötig – auch gegen den Widerstand der demokratisch gewählten Vertreter. Wir sollten den Einfluss der Geste und der Rede auf den Zustand der Öffentlichkeit nicht geringschätzen. Aber letztlich gilt es,
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