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Enthuellungen eines Familienvaters

Enthuellungen eines Familienvaters

Titel: Enthuellungen eines Familienvaters
Autoren: Giovannino Guareschi
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Der Fahrraddieb

    Am Morgen des 10. Juni 1929 fand der dreizehnjährige Francesco R., geboren in Mailand, vor dem Gittertor der Villa des Herrn Luigi in der Umgebung der Stadt P. ein unbewachtes Fahrrad und schwang sich auf dessen Sattel.
    Nach einer vergnüglichen und ausgedehnten Spazierfahrt wurde der vielversprechende Jüngling aufgespürt, gab das Fahrrad zurück und erhielt dafür eine stattliche Zahl von Kopfstücken.
    Selbst wenn man in Betracht zieht, daß das Fahrrad dem Autor dieser Aufzeichnungen gehörte, wäre die Erwähnung eines solchen Zwischenfalles außerhalb der Grenzen lokaler Berichterstattung kaum zu rechtfertigen, hinge er nicht aufs engste mit dem Ausgangspunkt der vorliegenden Geschichte zusammen. Der Autor möchte in diesem Zusammenhang dartun, daß es nicht auf menschlichen Einfluß, sondern auf den höchsten Beschluß des Schicksals zurückzuführen war, wenn er sich am Morgen des 10. Juni 1929 zu Fuß in die Schule begeben mußte.
    Er möchte außerdem deutlich machen, daß sich zum Schutz seines bescheidenen Fahrrades Autoritäten von geradezu weltumspannender Bedeutsamkeit eingeschaltet haben; dies tut er nicht aus Eitelkeit, sondern aus reiner Liebe zur Wahrheit und um der Erzählung von allem Anfang an die Bedeutung zu geben, die ihr zukommt. Machen wir darum aus dem Jahr 1929 einen Schritt um dreizehn Jahre zurück.

    Es war eine trübselige Novembernacht des Jahres 1916. Mailand hatte sich in Dunkelheit gehüllt. Alles schlief. Als es Mitternacht schlug, trafen auf einem einsamen kleinen Platz sieben geheimnisvolle Gestalten zusammen: ein Mann und sechs Frauen. Der Mann hatte einen langen weißen Bart und einen weiten Mantel, und das ist nichts Außergewöhnliches; doch die Kleidung der sechs Frauen war eigenartig. Die erste, eine dürre Hagere, trug ein weites schwarzes Dominokostüm, dessen Kapuze bis zu den dunklen, tiefliegenden Augen herabhing. Die zweite, eine schöne Dame mit umfangreicher Taille, hatte ein reiches Kleid von glänzendweißer geblümter Seide, und die offenen Haare wallten ihr über die Schultern. Die dritte, eine ganz kleine, magere, gebückte Alte, umhüllte ein tausendfarbiger Schal, und auf der spitzen Hakennase trug sie große rauchgeschwärzte Gläser. Die vierte, eine blauäugige junge Dame, trug ein einfaches, gutgeschnittenes grünes Kleid und in den Haaren eine frische Marguerite. Die ganze Bekleidung der fünften bestand aus einem Schleier, und dies war erfreulich, da es sich um ein Mädchen von bester Machart handelte; ihr Blick war treu, fleißig und ehrlich. Die sechste Frau bot einen etwas zweideutigen Anblick: sie hatte ein exzentrisches, auffallendes Kleid und stark geschminkte Lippen; ihre Augen waren nicht zu sehen, da sie durch einen sehr dichten Schleier verborgen waren.
    Der Mann: die Zeit.
    Die sechs Frauen: der Tod, das Leben, die Lüge, die Hoffnung, die Wahrheit und das Glück.
    Die sieben eigenartigen Gestalten trafen einander auf dem einsamen kleinen Platz.
    „Gehen wir gleich?“ fragte die Zeit, die keine Zeit zu verlieren hatte. „Nein, zuerst machen wir einen kleinen Spaziergang“, antwortete ein wenig vorlaut das Leben, das alles Menschenmögliche getan hätte, nur um die Pläne der Zeit zu durchkreuzen.
    Die eigenartige Gesellschaft setzte sich in Bewegung.
    „Ein trübseliger Abend“, seufzte die Wahrheit und betrachtete den finsteren Himmel. „Der Krieg ist eine traurige Angelegenheit.“
    „Eine tragische“, steigerte das Leben.
    „Und eine lange“, betonte die Zeit.
    „Glücklicherweise ist das der letzte Krieg, der die Welt erschüttert!“ rief die Lüge.
    Die sonderbare Gesellschaft blieb vor einem Bauzaun stehen.
    „Was soll das werden?“ fragte die Hoffnung interessiert.
    „Der neue Bahnhof“, erklärte die Wahrheit.
    „Es wird ein künstlerisches Meisterwerk“, fügte die Lüge hinzu. „Ich gehe lieber zu Fuß“, stammelte das Leben.
    Das Glück sagte nichts.
    Die Gesellschaft setzte sich wieder in Bewegung und gelangte auf den Domplatz.
    Der Mond hatte die Wolken zerteilt. Die Fassade des Domes stand in vollem Lichte. Die tausend Spitzen schienen mit Bleiweiß auf den Himmel gezeichnet.
    „Ein wunderbarer Bau!“ sagte die Wahrheit. „Schade, daß immer so ein Gerüst ihn entstellt.“
    „Macht euch nichts draus“, erklärte die Lüge. „Ihr seht heute zum letztenmal ein Gerüst an unserem Dom. Bald ist er endgültig fertig.“ Die breiten Straßen verlassend, gingen sie durch ein gewundenes
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