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Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers
Autoren: Joyce Maynard
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    Nur wir zwei blieben übrig, meine Mutter und ich, als mein Vater wegging. Er meinte, ich solle auch das Baby, das er mit seiner neuen Frau Marjorie bekommen hatte, zur Familie zählen und Marjories Sohn Richard, der zwar sechs Monate jünger war als ich, aber alle Sportarten beherrschte, in denen ich eine totale Niete war. Aber für mich bestand die Familie aus Adele und mir, Punkt. Ich hätte eher noch meinen Hamster Joe dazugerechnet als dieses Baby, Chloe.
    Samstags, wenn mein Vater mich abholte und wir bei Friendly’s zu Abend aßen, wollte er immer, dass ich in der Nische neben Chloe saß. Dann zog er einen Stapel Baseballsammelkarten aus der Tasche und legte sie auf den Tisch, damit Richard und ich sie uns teilen konnten. Ich schenkte meine immer Richard. Warum auch nicht? Baseball war ein wunder Punkt für mich. Wenn unser Sportlehrer sagte, okay, Henry, du spielst bei den Blauen mit, stöhnte immer die ganze Mannschaft.
    Meistens sprach meine Mutter weder über meinen Vater und die Frau, mit der er jetzt verheiratet war, noch über deren Sohn und das Baby, aber als ich einmal aus Versehen ein Foto auf dem Tisch liegen ließ, das mein Vater mir geschenkt hatte – von uns allen fünf, als wir im Vorjahr
in Disneyworld gewesen waren –, griff meine Mutter nach dem Bild und schaute es sich mindestens eine Minute lang an. Sie stand da in der Küche und hielt das Foto in ihrer kleinen blassen Hand, den langen grazilen Hals ein bisschen zur Seite geneigt, als gäbe es auf dem Bild irgendein gigantisches, beunruhigendes Geheimnis zu entschlüsseln. Dabei waren nur wir fünf darauf zu sehen, in eine der Gondeln dieses Teetassen-Karussells gequetscht.
    Ich denke, dein Vater sollte sich mal um den Silberblick der Kleinen kümmern, sagte meine Mutter dann. Könnte auch nur eine kleinere Entwicklungsverzögerung sein, muss nicht unbedingt auf etwas wirklich Schwerwiegendes hinweisen. Aber ich denke, sie sollten das Kind mal untersuchen lassen. Kommt sie dir langsam vor, Henry?
    Ein bisschen vielleicht.
    Ich wusste es, sagte meine Mutter. Sie sieht dir auch gar nicht ähnlich.
    Ich beherrschte meine Rolle perfekt. Ich wusste, wer meine wirkliche Familie war. Meine Mutter.

    Normalerweise machten wir keine solchen Unternehmungen wie an diesem Tag. Meine Mutter verließ das Haus nach Möglichkeit gar nicht. Aber ich brauchte eine Hose für die Schule.
    Also gut, sagte sie. Dann fahren wir zum Pricemart. Es hörte sich an, als wäre ich in diesem Sommer absichtlich zwei Zentimeter gewachsen, um ihr das Leben schwer zu machen. Das ja ohnehin schon schwer genug war.

    Der Wagen sprang sofort an, als sie ihn startete, was erstaunlich war, wenn man bedenkt, dass wir ihn einen ganzen Monat lang nicht benutzt hatten. Meine Mutter fuhr langsam wie immer, als hätte sie es mit Glatteis oder dichtem Nebel zu tun, aber es war Sommer – Ende August, der Donnerstag vor dem Labor-Day-Wochenende –, und die Sonne schien.
    Der Sommer war mir lang vorgekommen. Als die Schule zu Ende ging, hatte ich zuerst gehofft, dass wir mal ans Meer fahren würden – wenn auch nur für einen Tag –, aber meine Mutter meinte, der Verkehr auf der Autobahn sei schrecklich und ich würde vermutlich einen Sonnenbrand kriegen, da ich seine Haut hätte – womit mein Vater gemeint war.
    Den ganzen Juni und Juli und den größten Teil vom August lang wünschte ich mir, dass irgendwas Besonderes passieren würde, aber nichts tat sich. Nur mein Vater kam, um mich zum Essen bei Friendly’s abzuholen, oder ab und an zum Bowling mit Marjorie und Richard und dem Baby, und einmal zu einem Ausflug in die White Mountains, wo wir eine Korbfabrik besichtigten und Marjorie in einem Laden einkaufte, in dem es Kerzen gab, die nach Cranberry, Zitrone oder Ingwer rochen.
    Davon abgesehen schaute ich viel Fernsehen in diesem Sommer. Meine Mutter hatte mir beigebracht, Solitaire zu spielen, und als mir das langweilig wurde, nahm ich mir Ecken im Haus vor, die ewig nicht geputzt worden waren, und verdiente mir damit einen Dollar fünfzig, wovon ich mir nun ein neues Rätselbuch kaufen wollte. Damals
spielten sogar Jungs, die so sonderbar waren wie ich, eigentlich schon Game Boy oder PlayStation, aber nur bestimmte Familien hatten Nintendo – und wir zählten nicht dazu.
    Zu dieser Zeit hatte ich schon ständig Mädchen im Kopf, aber außer Gedanken spielte sich da bislang noch gar nichts ab.
    Ich war gerade dreizehn geworden und interessierte mich für alles, was mit
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