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Mercy Thompson 01 - Ruf des Mondes-retail

Titel: Mercy Thompson 01 - Ruf des Mondes-retail
Autoren: Patricia Briggs
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    M ir war nicht sofort klar, dass ich einen Werwolf vor mir hatte. Mein Geruchssinn war durch Schmierfett und verbranntes Öl ein wenig eingeschränkt, und es passiert schließlich auch nicht jeden Tag, dass ein streunender Werwolf vorbeikommt. Als sich also jemand in der Nähe meiner Füße höflich räusperte, hielt ich ihn für einen ganz normalen Kunden.
    Ich lag gerade unter einem Jetta und brachte ein neu zusammengesetztes Getriebe an. Einer der Nachteile einer Ein-Frau-Autowerkstatt besteht darin, dass ich jedes Mal aufhören und später wieder anfangen muss, wenn das Telefon klingelt oder jemand vorbeikommt. Dann bekomme ich schlechte Laune, und das ist nicht gut, wenn man mit Kunden zu tun hat. Mein treuer Handlanger im Büro war inzwischen an der Uni, und ich hatte noch keinen Ersatz für ihn gefunden – es ist nicht leicht, jemanden aufzutreiben, der freiwillig all die Dinge übernimmt, zu denen ich keine Lust habe.
    »Eine Sekunde bitte«, sagte ich und strengte mich an, nicht allzu missmutig zu klingen. Ich tue mein Bestes, um meine Kunden nicht zu verschrecken.
    Winden und Hebebühnen hin oder her, es gibt wirklich nur eine einzige Möglichkeit, ein Getriebe in einen alten Jetta zu
wuchten: Muskelkraft. Manchmal ist es bei meiner Arbeit nützlich, eine Frau zu sein – meine Hände sind klein, also kann ich Stellen erreichen, die für die meisten Männer schwer zugänglich sind. Aber selbst Gewichtheben und Karate können mir nicht die Körperkraft eines starken Mannes geben. Hin und wieder kann ich mir mit Hebelwirkung helfen, aber oft gibt es einfach keinen Ersatz für Muskeln, und ich hatte so gerade eben genug Kraft, um meine Aufgabe zu erledigen.
    Grunzend vor Anstrengung schob ich das Getriebe also mit den Knien und einer Hand an die richtige Stelle. Mit der anderen Hand brachte ich die erste Schraube an und drehte sie fest. Damit war es natürlich nicht getan, aber das Getriebe würde zumindest bleiben, wo es war, solange ich mit meinem Kunden sprach.
    Bevor ich mich unter dem Auto hervorrollte, holte ich tief Luft und setzte zu Übungszwecken schon mal ein Lächeln auf. Draußen angekommen, griff ich nach einem Lappen, um mir das Öl von den Händen zu wischen, und sagte: »Was kann ich für Sie tun?«, noch bevor ich den Jungen gut genug zu Gesicht bekam, um feststellen zu können, dass er vermutlich kein Kunde war – er sah allerdings eindeutig so aus, als bräuchte er Hilfe.
    Seine Jeans waren an den Knien zerrissen und fleckig von altem Blut und Dreck. Über einem schmutzigen T-Shirt trug er ein zu enges Flanellhemd – viel zu wenig Kleidung für den November im Osten von Washington.
    Er wirkte ausgemergelt, als hätte er eine Weile ohne Essen zurechtkommen müssen, und nun sagte meine Nase mir auch über den Geruch von Benzin, Öl und Frostschutz hinweg, der überall in der Werkstatt hing, dass er ebenso lange nicht mehr geduscht hatte. Und unter dem Dreck, dem alten Schweiß und der Angst lag eindeutig der Geruch eines Werwolfs.

    »Ich frage mich, ob ich wohl irgendwelche Hilfsarbeiten für Sie erledigen könnte?«, sagte er zögernd. »Ich suche nicht wirklich einen Job, Ma’am. Nur was für ein paar Stunden.«
    Ich konnte seine Nervosität riechen, bevor sie von einem Schwall Adrenalin überdeckt wurde, als ich nicht sofort ablehnte. Er begann, immer schneller zu sprechen, bis seine Worte sich überschlugen. »Richtige Arbeit wäre selbstverständlich auch okay, aber ich habe keine Sozialversicherungskarte, also müssten Sie mich unter der Hand bezahlen.«
    Die meisten Leute, die nach dieser Art von Job suchen, sind Illegale, die sich zwischen Ernte- und Anpflanzzeit über Wasser halten wollen. Dieser Junge jedoch war ein typischer weißer Amerikaner – wenn man einmal davon absah, dass er ein Werwolf war. Er hatte rötlichbraunes Haar und braune Augen, und bei einigen Leuten wäre er vermutlich für achtzehn durchgegangen, aber ich habe ein ziemlich gutes Gespür, was diese Dinge angeht, und schätzte ihn eher auf fünfzehn. Seine Schultern waren breit, aber knochig, und seine Hände wirkten zu groß für seine Arme, so als müsse er noch ein bisschen in den Mann hineinwachsen, der er einmal sein würde.
    »Ich bin stark«, sagte er. »Ich kenne mich nicht besonders mit Autoreparaturen aus, aber ich habe meinem Onkel immer geholfen, seinen Käfer wieder zum Laufen zu bringen.«
    Ich glaubte gerne, dass er stark war – das sind Werwölfe eigentlich immer. Sobald ich den
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