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Unsere schoenen neuen Kleider

Unsere schoenen neuen Kleider

Titel: Unsere schoenen neuen Kleider
Autoren: Ingo Schulze
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durch Beteiligungen untersucht hat, kam zu einem zweifach überraschenden Ergebnis: 1318 Konzerne üben die Kontrolle über alle 43 060 international tätigen Unternehmen aus, die 2007 in der Wirtschaftsbank Orbis erfasst waren, wobei 40 Prozent wiederum in den Händen von nur 147 Unternehmen liegen. Die zweite Überraschung: Die Plätze 1 bis 49 nehmen ausschließlich Banken und Versicherungsgesellschaften ein. Man braucht keine Verschwörungstheorien zu bemühen. Es reicht schon eine Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.
    Andersen lässt auf dem Höhepunkt der Zustimmung die Geschichte ohne jede Vorbereitung und von einem Moment auf den anderen, von einem Satz auf den anderen kippen. Der Kaiser geht in der Pracht seiner neuen Kleider umher. Dann heißt es: »Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht wie diese. ›Aber er hat ja gar nichts an!‹ sagte endlich ein kleines Kind.«
    Was heißt eigentlich: »solches Glück gemacht«? Übersetzt man es nicht vereinfachend mit »Erfolg gehabt«, wird es schwierig: War das Volk nun glücklich darüber, nicht mehr unsicher wägen zu müssen, sondern mühelos Erkenntnis zu erhalten? Weil die Welt und der Nachbar und man selbst vermeintlich einschätzbar wurden? Aber wie kann man Glück empfinden, wenn man seinen Sinnen nicht mehr trauen darf? Doch das wäre schon eine andere Rede.
    Nicht überlesen werden sollte das Attribut »klein«, ein kleines Kind ist es, das unbefangen seinen Augen traut. Andersen wollte wohl auf Nummer sicher gehen, sein Kind konnte gar nicht klein genug sein, um noch nicht von der Sichtweise der Erwachsenen angesteckt zu sein. In der Fassung desselben literarischen Stoffes durch den Spanier Don Juan Manuel aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist es ein Schwarzer, der schwarze Stallknecht des Königs, »der nichts zu verlieren hatte«, der seinen Augen traut und sich dem König offenbart. Auch hier ließe sich – analog zur Formulierung »kleines Kind« – sagen: Es reicht nicht, dass derjenige, der seinen Augen traut, der sich nicht vom common sense anstecken lässt, ein Stallknecht ist, er musste auch noch schwarz sein.
    In dem Adverb »endlich« versteckt sich ein Seufzer der Erleichterung, als sei selbst der Erzähler angesichts des merkwürdigen Verhaltens seiner Figuren an die Grenzen seiner Geduld gekommen. Endlich spricht es einer aus!
    Stellen Sie sich vor, Sie hörten diese Geschichte zum ersten Mal und sollten sie aufgrund Ihrer Erfahrungen zu Ende schreiben. Läge es nicht nahe, statt der bekannten Wendung nun zu erzählen, wie das Kind gescholten und verlacht und womöglich bestraft wird, wenn es nicht schweigen will? Und zu beschreiben, wie die Eltern den Umstehenden versichern, dass man ihrem Bengel oder ihrer Göre diese Dummheit nicht übel nehmen solle, er oder sie sei ja nur ein Kind und wisse nicht, was es da rede.
    Dass es nicht so ausgeht, hat einen Grund. Auf die Feststellung des Kindes folgt der Satz: »›Hört die Stimme der Unschuld!‹ sagte der Vater;« – und nach dem Semikolon heißt es dann: »und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte.«
    Die Vaterfigur hat nur diesen einen Satz. Aber dieser eine Satz macht die Vaterfigur zum Helden des Märchens. Der Märchen-Vater leistet Großes: Er zeugt für den Zeugen. Er ist derjenige, der wirklich etwas riskiert. Das Kind würde schlimmstenfalls ausgelacht oder ausgeschimpft werden. Der Vater aber, der die Beobachtung seines Kindes aufnimmt, setzt seine bürgerliche Existenz aufs Spiel. Seinem Ruf ist eine gewisse Vorsicht anzuhören, als ließe sich diese Formulierung auch zur Entschuldigung umdeuten. Hat er ein Amt, so könnte er sich nun als untauglich dafür erwiesen haben. Seine Mitbürger könnten ihn geschlossen unverzeihlich dumm nennen und ächten.
    Was aber ist es, was das kleine Kind und seinen Vater von den anderen unterscheidet? Sie vertrauen ihren fünf Sinnen! Bei dem kleinen Kind verwundert das nicht. Bei dem Vater ist es zumindest nicht selbstverständlich. Er beweist Mut. Wichtiger aber noch: Er nimmt sich selbst ernst. Das scheint das Schwierigste zu sein. Nur wer sich selbst ernst nimmt, kann Verantwortung übernehmen und vermag ein Leben in Würde zu führen.
    Die anderen Erwachsenen bleiben in Deckung. Zwar zischeln und flüstern und wispern sie die Beobachtung des kleinen Kindes untereinander weiter. Vernehmlich artikulieren sie sich aber erst später und dann als Sprechchor, in
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