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Unsere schoenen neuen Kleider

Unsere schoenen neuen Kleider

Titel: Unsere schoenen neuen Kleider
Autoren: Ingo Schulze
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Unabhängigkeitserklärung hebt an mit dem berühmten Satz: »Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unabdingbaren Rechten ausgestattet sind, darunter das Recht auf Leben und Freiheit sowie das Streben nach Glück.«
    Jean Ziegler, der Schweizer Publizist, der mehrere Jahre Sonderberichterstatter der UN für das Recht auf Nahrung war, verweist auf die sogenannten Millenniumsziele, die sich die Mitgliedsländer der UNO im Jahr 2000 gegeben haben: Halbierung der Zahl der Hungernden, Sicherung der Grundschulbildung, Stärkung der Rechte der Frau, Reduzierung der Kindersterblichkeit, Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Müttern, Bekämpfung von HIV /Aids, Schutz des Klimas, globale Entwicklungspartnerschaft zwischen dem Westen und dem Süden. Die Bilanz fällt erbärmlich aus. Die Zahl der Hungernden ist angestiegen, nach der UNO -Statistik von 785 Millionen schwer und permanent unterernährten Menschen im Jahr 2000 auf 854 Millionen im Jahr 2008. Danach verschärfte die Krise sowie die Spekulation mit Lebensmitteln die Situation, so dass für 2009 rund eine Milliarde gezählt wird.
    Nur zwei Zahlen noch: 2008 starben im subsaharischen Afrika fünfhunderttausend Frauen bei der Entbindung. Weil die wirksamen Aids-Medikamente für Afrika unerschwinglich sind, waren 2003 zwölf Millionen Kinder verwaist, 2010 waren es achtzehn Millionen.
    Zieglers Beispiele ließen sich weiter fortführen. Nur eines sei noch hinzugefügt: Mit großer Wahrscheinlichkeit ist auch der Computer, auf dem ich diese Zeilen schreibe, ist das Handy, das ich in der Tasche trage, mit jenem so raren Tantal ausgerüstet, das im Osten der Volksrepublik Kongo unter den grauenhaftesten Bedingungen gewonnen wird. Und das so billig ist, dass es alle Konkurrenz schlägt. Und ziemlich sicher ist, dass diese Geräte von Menschen zusammengeschraubt worden sind, die von einer 60-Stunden-Woche nur träumen können.
    Ziegler fragt: »Warum diese Blindheit? Warum diese ungerührte Arroganz, während Hunderte von Millionen Menschen sich über die Doppelzüngigkeit empören und dem Westen das Recht auf moralische Hegemonie absprechen?«
    Jean Ziegler antwortet vorsichtig – als würde er selbst vor dieser Erkenntnis zurückschrecken: »Ich formuliere eine Hypothese«, schreibt er. »Der Zusammenbruch der Sowjetunion, der Misskredit, in den die kommunistische Idee geraten ist, haben ein Schwarzes Loch geschaffen. Der (selbstverständlich notwendige) Fall der Berliner Mauer hat alle Emanzipationsperspektiven begraben und sogar jeden Gedanken an Protest vertrieben. […] Seit dem Mauerfall ist der Gedanke an eine andere Weltordnung, ein anderes Gedächtnis, einen anderen Willen in Verruf geraten.« 13
    Die einen mögen es paradox nennen, die anderen folgerichtig oder eine Binsenweisheit. Die Selbstbefreiung des Ostens, die Übernahme der kapitalistischen Produktionsweise und die dadurch mögliche Globalisierung der Wirtschaft haben ein Gewinnstreben entfesselt, das bisher ohne angemessene politische Gegenkraft geblieben ist. Angemessen heißt zum einen: mindestens so internationalisiert wie die Konzerne, zum anderen: mindestens so kraftvoll und selbstbewusst und entschieden wie sie. Angesichts der Ausplünderung ganzer Staaten darf man wohl wieder die altbekannte Fußnote aus dem Kapital zitieren: »Kapital flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit, oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren.«
    Harald Welzer verwies kürzlich in einer Rede – in der er forderte, sich selbst wieder ernst zu nehmen – darauf, dass die heutige Welt tatsächlich so aussehe, wie er sie sich als Fünfzehnjähriger vorgestellt habe, nämlich dass sich die Entscheidungsgewalt in den Bereichen der Finanzen und in der Wirtschaft in erstaunlich wenigen Händen konzentriert. 14 Eine Studie der ETH Zürich, die die Vernetzung der Konzerne untereinander
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