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Unsere schoenen neuen Kleider

Unsere schoenen neuen Kleider

Titel: Unsere schoenen neuen Kleider
Autoren: Ingo Schulze
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Vertreter unseres Gemeinwesens machte mich tatsächlich sprachlos. Wer mehr hat, soll noch mehr bekommen, die Rechnung dafür zahlt die gesamte Bevölkerung.
    Zum Schluss durften aus dem Publikum Fragen gestellt werden, die mehr oder weniger alle an den Vertreter der Bundesbank gerichtet wurden. Beim anschließenden Stehempfang wurde mir jedoch zu meiner großen Verwunderung ausgiebig auf die Schulter geklopft. Als ich die Schulterklopfer fragte, warum sie mir ihre Zustimmung erst jetzt, nach der Veranstaltung, bekundeten, sie hätten sich doch zumindest in der Diskussion zu Wort melden können, erntete ich wieder Schweigen.
    Ein paar Tage später lud mich Harald Welzer zu einer Veranstaltung ein, die am vierten Advent 2011 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin stattfinden sollte. Er schrieb: »Carolin Emcke, Roger Willemsen und ich haben das starke Bedürfnis, eine öffentliche Veranstaltung zu machen, in der die demokratiegefährdenden Entwicklungen in Europa im Zuge des ganzen Eurorettungstheaters thematisiert werden. Als da z. B. wären: die Entstehung demokratisch nicht legitimierter Institutionen (›Troika‹), die Aushebelung parlamentarischer Prozesse unter vorgeblichem Handlungsdruck ›der Märkte‹, Entzug staatlicher Souveränität durch oktroyierte Sparprogramme, Beschneidung zukünftiger Handlungsmöglichkeit durch Staatsverschuldung, Ideologisierung ökonomischer Prozesse, Sprachverkleisterung, kurz: alles das, was die Kanzlerin als ›marktkonforme Demokratie‹ bezeichnet.«
    Unter dem Titel »Angriff auf die Demokratie – eine Intervention« sollten zehn Statements von zehn »Interventionisten« – kein Beitrag länger als zehn Minuten und ohne anschließende Diskussion – gehalten werden. Ich zögerte mit einer Zusage, ich war skeptisch und fürchtete, unsere Reden würden sich alle gleichen. Letztlich sagte ich zu: aus Solidarität mit den Veranstaltern und weil ich gegen meine Sprachlosigkeit und Vereinzelung ankämpfen wollte.
    Auf eine für mich überraschende Weise ergänzten sich dann die zehn Statements. Es gab viele Bezüge, die Beiträge schienen einander zu brauchen, als hätten wir zuvor verschiedene Themen abgesprochen. Selbst dramaturgisch (alphabetische Reihenfolge) hätten wir unseren Auftritt nicht besser inszenieren können. Für mich wurden diese anderthalb Stunden zu einer ebenso großen Anregung wie Ermutigung. Bereits beim Schreiben des Beitrags hatte ich gespürt, wie viel leichter es mir fiel, Gedanken zu formulieren, wenn ich mir einen Raum vorstellte, in dem ich auf Interesse hoffen konnte und in dem nicht jeder Satz beargwöhnt werden würde. So einen Raum zum Sprechen, so einen Freiraum, schuf diese Intervention.
    Ein Interview zu der Veranstaltung am folgenden Tag, das Deutschlandradio Kultur mit mir führte, hatte viele Reaktionen zur Folge – unter anderem auch die Einladung zu den Dresdner Reden. Ich arbeitete meinen Beitrag zu einem Artikel um, der zuerst im Corriere della Sera , ein paar Tage darauf in der Süddeutschen Zeitung erschien, später auch gekürzt in der Onlineausgabe von Le Monde diplomatique und in anderen Zeitungen. Ich erhielt so viele Zuschriften wie nie zuvor nach einer Veröffentlichung, es folgten Einladungen auf Podien, zu Diskussionen und Bitten um weitere Artikel. Natürlich wünschte ich mir Resonanz, aber die Vehemenz dieser Rückmeldungen irritierte mich. Sie erschien mir unverhältnismäßig im Vergleich zu dem, was ich da geschrieben hatte. Denn das war weder neu noch originell.
    Die Einladung nach Dresden hatte ich angenommen, weil ich darin eine Chance sah, die einzelnen Punkte meines Artikels weiter ausführen zu können. Aber Gestus und Tonfall des Artikels entsprachen am ehesten denen eines Pamphlets. Das ließ sich nicht über eine oder anderthalb Stunden strecken. Zudem fühlte ich mich dieser Begriffs- und Zahlenwelt nicht wirklich gewachsen, ich fürchtete eine gewisse Beliebigkeit in der Auswahl. Eher war es meine Sache, von der Sprache und Literatur her den Weg in die Welt zu finden und zu argumentieren.
    In einem der bekanntesten Gedichte von Joseph von Eichendorff ist die Rede vom Zauberwort. Die Zeilen heißen: »Schläft ein Lied in allen Dingen, / die da träumen fort und fort, / und die Welt hebt an zu singen, / triffst Du nur das Zauberwort.«
    Prosaisch ausgedrückt: Trifft man das Zauberwort, erscheint einem die Welt in einem gewissen Maße verständlich und damit auch veränderbar. Mit Worten kann aber
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