Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entscheidungen

Entscheidungen

Titel: Entscheidungen
Autoren: Marie Hoehne
Vom Netzwerk:
1. KAPITEL

    E s war kalt.
    Mir tat die Seite weh, als ich lief, weiter, immer weiter. Es hatte den gesamten Tag über geregnet und das Wasser hatte die sandigen Wege in kleine Schlammkuhlen verwandelt.
    Keuchend blieb ich stehen und ging in die Knie. Meine Kondition war deutlich schlechter geworden. Die wenigen Wochen bei meinen Eltern waren mir körperlich alles andere als gut bekommen. Geistig allerdings umso mehr. Ich fühlte mich seit Monaten das erste Mal wieder einigermaßen entspannt.
    Ich holte tief Luft und sah mich um. Meterhoher Mais, soweit das Auge reichte. Der Anblick hatte etwas Friedliches an sich, etwas Beruhigendes. Nebraska war schon schön. Zumindest jetzt, in diesem Augenblick.
    Es war kurz vor sieben, wie ich mit einem Blick auf meine Uhr feststellte. Höchste Zeit, umzudrehen. Wenn ich die Abkürzung am Friedhof vorbei nahm, würde ich es sogar noch pünktlich zum Abendessen schaffen. Wollte ich das denn?
    Ich dachte einen Moment lang liebevoll an meine Mutter. Das Landleben hatte sie verändert, nur ihre Kochkünste waren noch immer genauso miserabel wie in New York. Wie sehr ich sie dafür liebte. Wenigstens eine Konstante in meinem Leben war geblieben!
    Schnaufend lief ich los, passierte die menschenleere Straße und rannte auf die Stadt zu. Die kleinen Häuschen waren am Horizont bereits deutlich zu erkennen. Wenn ich einen Haken schlug, würde mich auch keine Dotti oder Miss Liliane für einen kurzen Plausch abfangen können. Ich mochte es nicht, wie sie mich ansahen. Mitleidig… und wissend. Sie ahnten es. Sie ahnten, was mit Sam passiert war, dessen war ich mir sicher. Doch in Parkerville sprach niemand darüber. Es war ein offenes Geheimnis, oder bildete ich mir das nur ein?
    Ich lief auf die ersten Häuser zu und bog zielsicher in den kleinen Weg ein, der um die Stadt herumführte. In der Ferne sah ich einen Hund über die Felder jagen, irgendjemand rief einen Namen. Der Hund machte kehrt und verschwand zwischen den dichten Ähren.
    Ich lächelte unwillkürlich bei seinem Anblick.
    Weiter.
    Mein Atem ging schwer, als ich auf den Friedhof zu rannte. Er war klein und nur von einer niedrigen Steinmauer umgeben. Einzelne Bäume spendeten an sonnigen Tagen ein wenig Schatten, doch heute war es nicht sonnig. Durch den Regen war es sogar ungewöhnlich kalt und trüb für August.
    Ich verlangsamte fast augenblicklich meine Schritte, als ich sie entdeckte.
    Sie stand mit dem Rücken zur Straße vor einem der Gräber und starrte auf den blankpolierten Grabstein. Ihre Schultern waren gebeugt, ihr Kopf gesenkt.
    Zögernd blieb ich stehen. Mein Atem ging schwer und ich beugte die Knie, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
    Ihr Haar war unordentlich zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden, ihr Mantel knitterig. Doch ich erkannte sie sofort, dabei hatte sie erst zweimal gesehen.
    Xanders Mutter wirkte immer ein wenig steif, vielleicht sogar hochmütig. Aber vielleicht war es auch nur die Trauer um ihre verlorenen Kinder, die sie dahinter zu verbergen versuchte. Bislang hatte ich sie jedoch für ziemlich herzlos gehalten. Sie wusste, was mit Xander geschehen war. Monatelang hatte sie mit ihrem untoten Sohn in einem Haus zusammengelebt, um ihn dann bei der nächstbesten Gelegenheit davon zu jagen. Doch wusste sie auch von Ashley?
    Ich fröstelte unwillkürlich, als ich an sie dachte, an das brennende Etwas auf dem verlassenen Parkplatz in Chicago. Sie oder ich. Wieso musste man auch immer solche schwerwiegenden Entscheidungen treffen?
    Und Xander? Ging es ihm gut? Ich hatte keine Ahnung und das Ziehen in meinem Magen wurde augenblicklich stärker. Doch diesmal kam es nicht vom Laufen.
    Meine Gedanken kehrten ruckartig zurück in die Gegenwart.
    Mrs. Carter stand an seinem Grab. Trauerte sie tatsächlich um ihren einzigen Sohn? Aber er lebte! Das hoffte ich zumindest. Seit zehn Monaten hatte ich nichts mehr von ihm gehört.
    Doch konnte man das, was er tat, wirklich Leben nennen? Er existierte, zumindest im übertragenen Sinne. Er hatte nur eine andere Form des Lebens erreicht. Ohne Herzschlag, ohne Sonnenlicht. So wie Sam.
    Ich schüttelte den Kopf, um die belastenden Gedanken zu verscheuchten.
    Gerade, als ich mich dazu entschieden hatte, weiterzulaufen, wandte sie den Kopf und sah mich an.
    Erschrocken hielt ich die Luft an. Der Kummer hatte sich deutlich in ihr Gesicht gegraben. Die sonst so zarten Züge waren hart geworden. Ein bitterer Zug lag auch um ihren Mund und ihre Augen waren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher