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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
Autoren: Javier Marías
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W ollte Gott, daß niemand uns jemals um etwas bittet oder auch nur fragt, weder um einen Rat noch um einen Gefallen oder ein Darlehen, nicht einmal um Aufmerksamkeit, wollte Gott, die anderen bäten uns nicht, ihnen zuzuhören, ihren jämmerlichen Problemen und ihren peinlichen Konflikten, die den unseren so sehr gleichen, ihren unbegreiflichen Zweifeln und ihren bloßen Geschichten, die so austauschbar und immer schon geschrieben sind (sie ist nicht sehr breit, die Skala dessen, was man versuchen kann zu erzählen), oder den früher einmal so genannten Nöten, wer hat sie nicht oder sucht andernfalls nicht nach ihnen, ›das Unglück erfindet man‹, zitiere ich oft für mich, und das Zitat ist wahr, wenn es Mißgeschicke sind, die nicht von außen kommen und nicht objektiv unvermeidbar sind, keine Katastrophe, kein Unfall, kein Tod, kein Zusammenbruch, keine Entlassung, keine Seuche, keine Hungersnot oder unerbittliche Verfolgung desjenigen, der nichts getan hat, die Geschichte ist voll von ihnen, auch unsere, und ich meine damit diese unsere unvollendeten Zeiten (und es gibt sogar Entlassungen und Zusammenbrüche und Tode, die tatsächlich gesucht oder verdient oder tatsächlich erfunden sind). Wollte Gott, daß niemand zu uns kommt und »bitte« sagt oder »sag mal«, das sind die ersten Worte, die den Bitten vorausgehen, fast allen: »Sag mal, weißt du?«, »Sag mal, könntest du mir sagen?«, »Sag mal, hast du?«, »Sag mal, ich würde dich gerne bitten: um eine Empfehlung, um eine Information, um eine Meinung, um Hilfe, um Geld, um eine Vermittlung oder um Trost, um eine Gefälligkeit, daß du dieses Geheimnis hütest oder daß du dich für mich änderst und ein anderer wirst oder daß du für mich Verrat begehst und lügst oder schweigst und mich so rettest«. Die Leute bitten und bitten um alles, was ihnen in den Sinn kommt, um Angemessenes und Abwegiges, Berechtigtes und Unverschämtes und Imaginäres – die Sterne vom Himmel, so hat man immer gesagt, und viele haben sie überall versprochen, denn sie sind noch immer imaginär; es bitten die Nahestehenden und die Unbekannten, es bittet, wer in Bedrängnis ist und wer sie eher verursacht, es bitten die Bedürftigen und die Begüterten, die sich darin nicht unterscheiden: niemand scheint jemals genug anzusammeln, niemand begnügt sich jemals oder hält inne, so als würde man zu allen sagen: »Bitte du ruhig, nach Herzenslust, nur immer zu.« Dabei sagt man das zu niemandem.
    Und so geht man hin und hört zu, hört meistens zu, oft bange und oft auch geschmeichelt, nichts ist im Grunde so schmeichelhaft, wie in der Lage zu sein, etwas zu gewähren oder zu verweigern, nichts – auch das kommt schnell – so lästig und unangenehm: zu wissen, zu denken, daß man »ja« oder »nein« oder »wir werden sehen« sagen kann; und »vielleicht«, »ich werde es mir überlegen«, »ich werde dir morgen antworten« oder »das und das will ich dafür«, je nachdem, wie der Tag ist und völlig willkürlich, je nachdem, ob man müßig, in Geberlaune oder gelangweilt ist, oder aber es ungeheuer eilig hat und keine Geduld und Zeit, je nach der eigenen Stimmung oder je nachdem, ob man den anderen in seiner Schuld stehen oder in Ungewißheit warten lassen will oder sich zu engagieren wünscht, denn wenn man gewährt oder verweigert – in beiden Fällen oder schon durch bloßes Zuhören –, entsteht eine Verbindung mit dem Bittenden, und man verwickelt oder verstrickt sich womöglich.
    Gibt man eines Tages einem Bettler in der Nachbarschaft ein Almosen, wird es am nächsten Morgen schwieriger sein, es ihm zu verweigern, denn er wird es erwarten (nichts hat sich verändert, er ist noch immer gleich arm, ich bin noch nicht weniger reich, und wenn gestern, warum dann nicht heute), in gewissem Sinne wird man eine Verpflichtung für ihn übernommen haben: wenn man ihm geholfen hat, es bis zu diesem neuen Tag zu schaffen, ist man dafür verantwortlich, daß dieser sich nicht gegen ihn wendet, daß er nicht der Tag seines letzten Leids oder seiner Verdammnis oder seines Todes wird, und muß ihm eine Brücke bauen, damit er ihn überqueren kann, und so vielleicht unbegrenzt Tag für Tag; gewisse primitive – oder eher logische – Völker kennen ein Gesetz, das weder besonders seltsam noch sinnlos ist, demzufolge jemand, der einem anderen das Leben rettet, zum ewigen Hüter oder Verantwortlichen dieses Lebens und dieses anderen wird (es sei denn, eines Tages käme es zur
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