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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
Autoren: Javier Marías
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entfernte sich dieses eine Mal von seiner Mutter und rannte mir entgegen, obwohl sie hinter ihm herrief: ›Nein, Emil, nein! Emil, komm her!‹ Er sprang um mich herum wie ein kleiner Hund.« Luisa erinnerte sich mit einem Lächeln, amüsiert über die noch frische Erinnerung. Dann fügte sie hinzu: »Und das ist alles.«
    »Und jetzt, wo du ihr den Gefallen getan hast, wird sie dich da nicht ständig um etwas bitten?«
    »Nein, ich glaube nicht, daß sie es ausnutzt. Ich habe sie seit den Papiertüchern mehrmals getroffen, und bis heute hat sie mich nicht noch einmal um etwas gebeten, so ausdrücklich. Einmal habe ich ihre Männer gesehen, sie strichen dort herum, ich nehme an, ihr Mann war einer von ihnen, obwohl keiner sich in seiner Haltung gegenüber ihr oder den Kindern unterschied. Vielleicht waren sie alle Brüder, Vettern oder Onkel von ihr, Verwandtschaft, vier oder fünf bei einer raschen Zusammenkunft, in der Nähe der jungen Frau, aber ohne sie einzubeziehen, und dann sind sie gleich wieder fort.«
    »Sie werden eine Mafia sein, Kontrollen durchführen, aufpassen, daß ihr nicht andere Bettler den Posten wegnehmen. Viele zahlen für einen guten Platz, wie eine Miete, selbst beim Betteln gibt es große Konkurrenz. Und er ist nicht schlecht, der Ort dieser jungen Frau, ohne Schutz würde sie ihn nicht behalten. Wie waren die Männer?«
    »Übel. Vor denen wäre auch ich zurückgewichen, fürchte ich, wie um eine Ansteckung zu vermeiden. Verdächtige Typen. Aggressiv. Herrisch. Verschlagen. Schmutzig. Aber jeder mit seinem Handy und mit Ringen. Und mit der einen oder anderen Weste.«
    ›Ja‹, dachte ich, ›die Reaktion der Kunden in der Konditorei: es stimmt, daß sie ihr etwas ausgemacht hat, sie wird sie nicht vergessen, sie wird ihr sehr gegenwärtig sein, wenn sie das nächste Mal allein oder mit unseren ordentlichen und nicht bettelnden Kindern hineingeht; sie hat sie am eigenen Leib gespürt. Sie ist verbunden. Aber das ist nicht schlimm und wird auch nicht schlimm werden. Und sicher bin ich es auch.‹
    Was mich anging, so stellte ich das in meiner Zeit in London fest. Denn selbst dort, weit entfernt von Luisa und unseren Kindern, erinnerte ich mich bisweilen an die junge Bosnierin mit ihren beiden, an den kleinen verantwortungsvollen heimatlosen Optimisten und seinen Bruder im alten Kinderwagen, die ich nie gesehen hatte und nur aus Erzählungen kannte. Und wenn sie mir in den Sinn kamen, dann fragte ich mich nicht in erster Linie, wie es ihnen gehen mochte oder ob sie ein wenig Glück gehabt hatten, sondern – was vielleicht merkwürdig oder vielleicht doch nicht so merkwürdig war –, ob sie noch immer in der Welt sein mochten, so als würde es sich nur in diesem Fall lohnen, ihnen einen flüchtigen, schwebenden Gedanken ohne konkreten Inhalt zu widmen. Und doch war es nicht so: Auch wenn sie durch einen bösen Zufall oder ein großes Mißgeschick, durch Ungerechtigkeit oder Unfall oder Mord die Welt verlassen hatten, gehörten sie längst zu meinen gehörten und einverleibten Erzählungen, waren sie ein Bild mehr, das ich gespeichert hatte, unsere Fähigkeit, sie aufzunehmen, ist grenzenlos (sie addieren sich alle, fast keines subtrahiert sich), die wirklichen und die phantasierten ebenso wie das Geschehene und das Falsche, wir gehen unseren Weg und sind ständig neuen Geschichten und einer Million Begebenheiten mehr und der Erinnerung an Menschen ausgesetzt, die niemals existiert, die niemals ihren Fuß auf die Erde gesetzt oder die Welt durchschritten haben, oder wohl gewesen sind, aber sich bereits halbwegs in Sicherheit befanden in ihrer glücklichen Bedeutungslosigkeit oder ihrem seligen, nicht denkwürdigen Status. Das Kind Emil hatte Luisa an unser vergangenes Kind Guillermo denken lassen, an das zwei- oder dreijährige, und jetzt ließ unser mittlerweile größer gewordene Sohn mich oder uns – die Kinder ständig im Kopf – seinerseits an den kleinen bedeutungslosen Ungarn denken, während dieser vielleicht seinen Weg fortgesetzt hatte und in seinem aufgezwungenen Nomadentum in ein anderes Land gezogen oder nicht einmal mehr in der Zeit geblieben war, durch einen bösen Zufall oder einen bösen Zusammenstoß früh aus ihr vertrieben, das widerfährt nicht selten denen, die es eilig haben, in die Welt und ihre Aufgaben und ihr Wohl und Wehe aufgenommen zu werden.
    Und so wachte ich bisweilen auf mitten in der Nacht, oder das glaubte ich, bisweilen schweißgebadet und immer
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